Lindsey Vonn - Hoch hinaus - Meine Geschichte. Die Autobiografie der erfolgreichsten Skifahrerin aller Zeiten

Lindsey Vonn - Hoch hinaus - Meine Geschichte. Die Autobiografie der erfolgreichsten Skifahrerin aller Zeiten

von: Lindsey Vonn

Edel Sports - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe, 2022

ISBN: 9783985880379 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 16,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Lindsey Vonn - Hoch hinaus - Meine Geschichte. Die Autobiografie der erfolgreichsten Skifahrerin aller Zeiten


 

Prolog


Ich bin nervöser, als ich es je vor einem Rennen war.

Ich sitze auf dem Rad und aktiviere meine Beinmuskeln. Ich fühle mich okay. Nicht großartig, aber okay.

Ich ziehe mein Ding durch, in den Kopfhörern meinen Pre-Race-Mix, und versuche, die Bedeutung dessen, was gleich passieren wird, zu verstehen und zu würdigen, während ich gleichzeitig versuche, die Bedeutung dessen, was gleich passieren wird, zu ignorieren. Das ist mein allerletztes Rennen, für immer … Ich befinde mich tief im Alles-oder-nichts-Modus, in einem heiklen Balanceakt zwischen Pushen und Ausflippen. Es ist doch nur ein weiteres Rennen, sage ich mir, aber gleichzeitig weiß ich, dass es das nicht ist. Es bedeutet alles für mich, wirklich alles. Es ist meine Chance, selbst in der Hand zu haben, wie alles endet.

Ich will mich so gut wie möglich pushen, damit ich alles, was ich habe, in meine letzten Momente als Profiskifahrerin geben kann. Das Schlimmste wäre, heute zu stürzen – und dass die Leute sich dann vor allem deswegen an mich erinnern. Direkt danach in meiner persönlichen No-go-Liste folgt die Vorstellung, nach einem sauber gefahrenen Rennen die Ziellinie zu überqueren und dabei das Gefühl zu haben, dass ich mich noch mehr hätte anstrengen können, mehr hätte geben können.

Am Abend vor einem Rennen gehe ich vor dem Einschlafen gedanklich die Strecke durch – jedes Tor, jede Unebenheit, jeden Teil des Geländes. Immer und immer wieder visualisiere ich sie, bis es sich anfühlt, als wäre sie ein Teil von mir. Wenn ich aufwache, bin ich oft müde, denn ich bin kein Morgenmensch. Aber sobald ich aufs Fahrrad steige, fühle ich mich besser. Das ist der Zeitpunkt, ab dem ich mich nur noch auf mein mentales Gleichgewicht konzentriere.

Heute aber ist es ganz anders. Ich bin erst seit zehn Minuten auf dem Rad und habe schon das Gefühl, dass es reicht. Ich möchte die Zeit vorspulen. Nicht so weit, dass das Rennen und damit meine Karriere schon vorbei sein würden, aber ich möchte jetzt unbedingt auf den Schnee, die Strecke inspizieren und an den Start gehen.

Ich bin in Åre, Schweden, bei den Alpinen Skiweltmeisterschaften der FIS. Ein Ort, an dem ich gefühlt schon eine Million Mal gefahren bin. Etwas außerhalb der Stadt habe ich ein Haus gemietet, damit meine Familie bei diesem letzten Rennen dabei sein kann. Nach all den Opfern, die sie über die Jahre gebracht haben, wie sie mich jederzeit unterstützt haben, scheint es nur angebracht, dass wir diesen Lauf gemeinsam beenden.

Vom Haus zu dem Hügel für das Abfahrtsrennen sind es zehn Minuten mit dem Auto. Ich fahre zusammen mit meinem Trainer Alex Bunt, meiner Physiotherapeutin Lindsay Winninger und Claire Brown, einer meiner ältesten Freundinnen, die mir in dieser Saison eine große Hilfe war. Ich gehe los, um die Strecke zu inspizieren, während Lindsay und Claire meinen Platz in der Hütte sichern, wo das Team untergebracht ist. Lindsay begleitet mich jetzt seit fast fünf Jahren und kennt meine Gewohnheiten und Vorlieben. Sie weiß genau, wo ich an jedem Veranstaltungsort sein will: eher abseits, weg von den anderen Teilnehmerinnen, wo ich mich konzentrieren kann. Wenn ich hier in Åre bin, gibt es eine ganz bestimmte Ecke, die ich bevorzuge. Lindsay schlägt dort ihr Lager auf, während Claire sich um einige Last-Minute-Angelegenheiten kümmert und ich mich auf den Weg den Berg hinauf mache.

Draußen, hier oben, beruhigen sich meine Nerven. Es ist windig und kalt, aber ich nehme das Wetter nur am Rande wahr. Ich bin in meinem Element. Für mich beginnt hier mein Rennen. Wenn ich die Strecke inspiziere, ist in meinen Gedanken kein Platz für etwas anderes. Ich spreche mit niemandem. Ich bin konzentriert, ruhig, fast emotionslos in meiner Herangehensweise. Es gibt nur mich, diesen Start, diese Tore. Es gibt nur das, was direkt vor mir ist. Für ein paar ruhige Momente lasse ich nichts anderes an mich heran.

Der Wind tobt weiter, aber die Trainer vor Ort sagen mir, dass das Rennen wie geplant stattfinden wird. Dennoch machen Gerüchte die Runde, dass der Start nach unten verlegt werden könnte, um dem schlimmsten Wind zu entgehen, aber es wurde noch keine Entscheidung getroffen, also mache ich mich auf den Weg zu ein paar Aufwärmrunden. Ich fahre nicht die eigentliche Strecke, aber die Aufwärmläufe lassen mich den Wind im Gesicht spüren und meine Körperhaltung genau wahrnehmen. Das ist alles, was ich brauche, wenn ich mich den Berg hinauf- und hinunterbewege. Ich will Ski fahren.

Ich gehe zurück zur Hütte, zurück zu all den Kästchen, die ich abhaken muss, bevor ich bereit für das Rennen bin. Meine Routine besteht aus immer gleichen Abfolgen, die sich sicher und vertraut anfühlen. Ich fahre seit Jahren auf denselben Hügeln, also weiß ich inzwischen, was für mich funktioniert, was ich mag, was in der Vergangenheit gutgetan hat, was mir vielleicht ein bisschen Glück gebracht hat, und ich wiederhole diese Dinge, bis ich sie im Schlaf beherrsche. Im Skirennsport gibt es so viele Variablen. Es ist nicht wie beim Schwimmen, wo die Länge des Beckens immer gleich ist. Es ist auch nicht wie beim Tennis, wo der Platz immer die gleichen Maße hat. Im Skirennsport gibt es keine Konstanten. Ich kann den Schnee, das Eis und die Windverhältnisse nicht kontrollieren. Ich kann das Licht und die Sichtverhältnisse nicht kontrollieren. Ich kann die Konkurrenz nicht kontrollieren. Ich kann das Risiko nicht kontrollieren. Das Einzige, was ich kontrollieren kann, ist meine Vorbereitung. Also habe ich sie immer genau kontrolliert. Weniger aus Aberglauben als aus einem Bedürfnis nach Sicherheit heraus.

Ich setze meine Kopfhörer wieder auf, schließe die Augen und versuche, mich zu entspannen und die Strecke zu visualisieren. Hier in Åre haben die Athleten mit dem Parterre einen eigenen Bereich, aber ich suche mir für mein Warm-up gerne mein eigenes Plätzchen, fernab von Ablenkungen. Es gibt einen großen offenen Bereich in der Nähe des Ausstiegs der Seilbahn, und dort suche ich mir eine Ecke, um mein Ding zu machen.

Dann geht es weiter mit dem Warm-up, um mein Bein zu aktivieren. Beim Aufwärmen läuft mir besser niemand über den Weg. Normalerweise bin ich ziemlich cool, zu jedem Autogramm oder Selfie mit mir bereit, aber wenn ich in der Hütte bin, sollte mich niemand auch nur anschauen. Normalerweise steigert man sich beim Aufwärmen langsam, man will sich nicht zu früh hochpushen, weil man dann zu viel Energie verbraucht und nicht mehr genug für das Rennen übrig hat. Heute jedoch freunde ich mich schnell mit dem Gedanken an, dass Zurückhaltung von diesem Moment an nichts mehr bringt. Ich verschwende keinen Gedanken mehr an das Risiko, mich zu verausgaben. Das spielt keine Rolle mehr. Es gibt keinen Grund, meine Kraft für die Zukunft aufzusparen, denn dieses Rennen ist die Zukunft.

Als ich mein Aufwärmprogramm beendet habe, hören wir im Radio, dass der Start den Hügel runter zum dritten Reservestart verlegt wurde, an denselben Ort, an dem am Dienstag der Super-G startete – eine dramatische Verschiebung. Der neue Startpunkt liegt ziemlich weit unten am Berg und verkürzt die Strecke um einiges. Das ist gut für mich, denn der obere Teil der Strecke war für mein Knie der schwierigste.

Der Nachteil ist, dass es länger dauert, von der Hütte zum unteren Startpunkt zu gelangen. Ich bin ziemlich genervt davon, werde langsam unruhig und gehe viel zu früh los. Normalerweise bin ich gerne fünfzehn oder zwanzig Minuten vor dem Start da, aber jetzt sind es vierzig Minuten, was eine Menge Zeit ist, um in der Kälte zu sitzen und über das Rennen nachzudenken. Die Uhr kann gar nicht schnell genug ticken.

Als noch drei Fahrerinnen vor mir sind, ziehe ich meine Skier an. Dann fange ich an zu springen und zu stampfen. Das habe ich automatisch schon immer gemacht. Wenn man die Füße auf den Boden knallt, setzt das offenbar eine neurologische Reaktion in Gang, die das Gehirn und den Körper anregt. Meine Nerven liegen blank. Ich bin nicht nur eine Stapferin, sondern auch eine Spuckerin. Ich weiß, das ist eklig, aber wenn ich in der Startaufstellung stehe, spucke ich sehr viel. Das ist ein Zeichen dafür, dass der Körper einen natürlichen Schub an Testosteron produziert; deshalb spucken viele Sportlerinnen und Sportler. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer sehe ich dann wahrscheinlich aus, als wäre ich kurz davor zu töten. Das hat man mir während meiner gesamten Laufbahn gesagt, und jetzt stelle ich mir vor, dass das heute ganz besonders der Fall ist. Ich beschleunige meine Atmung und werde immer angriffslustiger. Aber die 5 Prozent extra hebe ich mir immer für den Moment auf, wenn ich tatsächlich am Start stehe.

Ich führe dieselben Selbstgespräche, die ich schon als Kind geführt habe. Ich habe das hier. Ich schaffe es. Ich halte mich nicht zurück. Heute füge ich dem Ganzen einen weiteren Gedanken hinzu: Es gibt keine zweite Chance.

Ich sage mir, dass ich es dieser Piste schon zeigen werde. Es ist fast so, als würde ich versuchen, mein Knieleiden überzukompensieren, meinen Geist dazu zu bringen, das beizusteuern, was meinem Körper fehlt. Die Wahrheit ist, dass ich nicht stark bin. Ich gehe sozusagen auf dem Zahnfleisch. Aber mein Kopf will das jetzt durchziehen. Die Strecke breitet sich vor mir aus.

Ich stehe früh auf meinen Skiern. Ich bin konzentriert. Ich bin entschlossen.

In meinem Kopf taucht ein Mantra auf: Ich kann das tun, ich kann das tun, ich kann das tun.

Kurz bevor ich an der Reihe bin, herrscht in meinem Kopf völlige Leere. Ich gleite zum Start und konzentriere mich nur auf meine Atmung. Wenn ich anfange, schwer zu atmen, ist...