Alle drei Tage - Warum Männer Frauen töten und was wir dagegen tun müssen - Ein SPIEGEL-Buch

Alle drei Tage - Warum Männer Frauen töten und was wir dagegen tun müssen - Ein SPIEGEL-Buch

von: Laura Backes, Margherita Bettoni

Deutsche Verlags-Anstalt, 2021

ISBN: 9783641271114 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 15,99 EUR

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Alle drei Tage - Warum Männer Frauen töten und was wir dagegen tun müssen - Ein SPIEGEL-Buch


 

Vorwort


Sie waren in Paris zusammengekommen, um ihrer Wut und ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen. Die rund 49 000 Demonstrant: innen, die am 23. November 2019 von der Place de l’Opéra bis zur Place de la Nation vorbeizogen, skandierten laut: »Solidarität mit all den Frauen auf der Welt!« Manche von ihnen hatten sich rote Tränen auf die Wangen gemalt, andere trugen Plakate mit Sprüchen wie »Für die Schmerzen und das Blut hat eine Frau schon ihre Tage« oder »Wir sind der Schrei derer, die keine Stimme mehr haben« bei sich. Auf einigen Plakaten waren Frauennamen zu lesen – die der 116 Frauen, die zwischen Januar und November 2019 in Frankreich von ihren (Ex-)Partnern ermordet worden waren. Die Menschen, die an jenem Novembertag die Straßen der Pariser Innenstadt säumten, waren alt, jung, weiblich, männlich, divers – und vereint in einem Ziel: gegen sexualisierte Gewalt und Morde an Frauen zu protestieren.

Auch in anderen europäischen Ländern, etwa in Spanien und Italien, gingen damals – wie jedes Jahr rund um den Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November – Zehntausende auf die Straße, um zu protestieren. Und in Deutschland? Dem Aufruf eines Berliner Frauenzentrums zu Protesten folgten gerade einmal 1000 Menschen. Auch bei Demonstrationen und Kundgebungen in anderen deutschen Großstädten blieben Aktivist: innen eher unter sich. Die breite Gesellschaft schien kein großes Interesse an dem Thema zu haben.

Zwar wird das Thema allmählich auch hier präsenter, aber wirklich geändert hat sich in Deutschland in den vergangenen anderthalb Jahren wenig. Und das liegt keinesfalls daran, dass das Problem hierzulande nicht existiert – im Gegenteil.

Alle drei Tage. Der Titel dieses Buches ist Ausdruck einer dramatischen Statistik. An ungefähr jedem dritten Tag im Jahr 2019 hat ein Mann in Deutschland seine (Ex-)Partnerin getötet. Noch schlimmer: Ungefähr einmal pro Tag hat ein Mann seine (Ex-)Partnerin angegriffen, um sie zu töten. Dabei war 2019 kein besonders grausames Jahr. Diese Zahlen sind in Deutschland Normalität. 2018 wurden 122 Frauen von ihrem (Ex-)Partner getötet, 2017 waren es 147.

In diesem Buch geht es um ein Problem, das in Deutschland selten thematisiert wird – und wenn, dann in aller Regel unzureichend. Wenn Medien über die Fälle berichten, sprechen sie oft von Beziehungsdramen oder Familientragödien, vor allem dann, wenn auch Kinder ermordet werden. In der Forschung ist mal von Partnertötung, mal von Trennungstötung die Rede. Wir, die Autorinnen dieses Buches, haben uns für einen anderen Begriff entschieden: Femizide. Dieser Begriff hat sich in vielen Ländern der Welt längst durchgesetzt und bezeichnet die Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts oder wegen bestimmter Vorstellungen von Weiblichkeit.

Worte wie Trennungstötung oder Partnertötung sind an sich nicht falsch. Die beiden Beteiligten, Täter und Opfer, waren oft Partner, es war also kein Fremder, der die Frau erschlug, erschoss oder verbrannte. Häufig geschehen diese Taten während oder nach der Trennung. Problematisch an diesen Worten ist aber, dass sie ein essentielles Detail verschweigen: Die Opfer sind in der Regel Frauen, die Täter meistens Männer. Diese töten »ihre« Ehefrauen, »ihre« Verlobten, »ihre« Ex-Freundinnen, weil sie sie nicht gehen lassen, sondern sie besitzen wollen. Sie töten die Frauen auch, weil sie Frauen sind. Diese Tötungen sind keine Einzelfälle, sondern Ausdruck eines strukturellen Problems der gesamten Gesellschaft. Weltweit. Im Begriff Femizid sind all diese Dimensionen enthalten.

Das Wort ist die Übersetzung des englischen Begriffes femicide. Seine heutige Bedeutung ist der südafrikanischen Soziologin Diana Russell zu verdanken. In Brüssel versammelten sich 1976 über 2000 Frauen aus 40 Ländern für ein viertägiges historisches Ereignis: Das Internationale Tribunal zu Gewalt gegen Frauen. Das Ziel: Aufmerksamkeit für all die Verbrechen zu schaffen, die Frauen weltweit erleiden mussten. In ihrer Rede sprach Russell von femicide, von Morden an Frauen, weil sie Frauen sind. Sie wollte eine Alternative zum geschlechtsneutralen Wort homicide, Mord, finden, um zu betonen, dass bei Femiziden das weibliche Geschlecht der Opfer zentral ist. In Deutschland hat sich der Begriff auch 44 Jahre später noch nicht durchgesetzt. Erst seit 2020 steht er im Duden – immerhin ein kleiner Fortschritt.

Wie breit man Femizide fassen kann, zeigt die Vienna Declaration on Femicide der Vereinten Nationen. Sie wurde im Rahmen eines Symposiums im UN-Büro in Wien erarbeitet. Demnach sind nicht nur Frauentötungen durch einen (Ex-)Partner Femizide, sondern auch sogenannte »Ehrenmorde« oder Tötungen von Frauen und Mädchen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Auch weibliche Infantizide und Fetizide, also die Tötung von Kindern und die Abtreibung weiblicher Babys oder Föten aufgrund ihres Geschlechts, zählen dazu. Das ist zum Beispiel in Indien ein großes Problem. Daten der indischen Regierung zufolge gehen dort jährlich zwei Millionen Mädchen »verloren«. Sie werden abgetrieben, nach der Geburt umgebracht oder sterben an Vernachlässigung oder unzureichender Ernährung, weil ihre Eltern sich lieber einen männlichen Nachkommen gewünscht hatten. Auch Frauen, die an den Folgen einer Genitalverstümmelung sterben, zählen laut der Vienna Declaration zu den weltweiten Femizidfällen. Genauso Frauen, die selbst heutzutage in manchen Ländern noch der Hexerei bezichtigt und deshalb getötet werden.

Es ist wichtig, all diese Femizidformen zu bedenken, wenn man das Problem auf einer weltweiten Skala analysiert. In diesem Buch konzentrieren wir uns jedoch auf Femizide im Rahmen einer (Ex-)Partnerschaft. Diese Art des Femizids kommt in Deutschland statistisch gesehen am häufigsten vor. Wir sprechen in der Regel von »Männern« und »Frauen« – verstehen das aber nicht im zweigeschlechtlichen Sinn. Denn wir sind uns zum einen bewusst, dass das Problem genauso trans* Frauen und trans* Mädchen betrifft. Zum anderen wissen wir, dass geschlechtsspezifische Gewalt sich auch gegen Menschen richtet, die sich als nichtbinär verstehen beziehungsweise sich nicht als Frauen identifizieren, aber von den Tätern als solche wahrgenommen werden.

Obwohl jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland ermordet wird und es sich dabei um ein systemisches Problem handelt, werden Femizide in Deutschland immer noch zu wenig thematisiert, geschweige denn strukturell analysiert. Das Interesse von Politik und Behörden ist begrenzt. Das zeigt schon die prekäre Datenlage. Zwar veröffentlicht das Bundeskriminalamt (BKA) einmal im Jahr eine Statistik zum Thema Gewalt innerhalb der Partnerschaft. Dort wird auch aufgeführt, wie viele Männer ihre (Ex-)Partnerin getötet oder es versucht haben. Darüber hinaus gibt es aber keine öffentlich zugänglichen Daten. Nicht über Tatmotive, nicht über die Vorgeschichte der Paare. Dabei wären derlei Informationen notwendig, um Femizide besser zu verstehen – und um sie gezielt zu bekämpfen.

Das Bewusstsein dafür, dass es sich bei Femiziden nicht um Einzelfälle, sondern um eine gesellschaftliche Herausforderung handelt, ist hierzulande nach wie vor gering. Während die Politik in Spanien schon vor Jahren neue Femizidgesetze verabschiedet hat und Femizide dort und in anderen Ländern ganz selbstverständlich in den Abendnachrichten vorkommen, berichtet die Tagesschau nach eigenen Aussagen in der Regel nicht über das, was sie »Beziehungstaten« nennt.

Im Jahr 2018 haben wir, die Autorinnen dieses Buches, uns zum ersten Mal journalistisch mit dem Thema Femizid auseinandergesetzt. Laura arbeitete damals im Deutschlandressort des Magazins Der SPIEGEL. Zusammen mit anderen Kolleg: innen recherchierte sie mehrere Wochen lang zum Thema Partnerschaftsgewalt. Das Ergebnis war ein mehrseitiger Artikel mit dem Titel »Die Hölle daheim«. Unter anderem wurden darin die damals neu erschienenen Zahlen des Bundeskriminalamtes über Femizide innerhalb einer Partnerschaft thematisiert. Eine der Leitfragen des Artikels suchte Antworten darauf, warum der gewaltsame Tod von mehr als 100 Frauen im Jahr 2017 kaum jemanden in Deutschland aufzuregen schien.

Im selben Jahr reiste Margherita in ihr Heimatland Italien, um für das Schweizer Magazin Reportagen über einen Femizid zu recherchieren. In einem Dorf hatte ein 24-Jähriger seine 22-jährige Freundin erschossen und sich anschließend selbst das Leben genommen. Als die Eltern des Opfers den Stadtrat um eine Gedenktafel für ihre Tochter gebeten hatten, gingen die Meinungen in der Gemeinde darüber auseinander. Der Bürgermeister trat am Ende zurück, weil er den Eindruck hatte, seine Kolleg: innen und Mitbürger: innen sähen das Femizidproblem nicht ein.

Was uns beiden unabhängig voneinander damals auffiel, war, wie wenig das Thema Femizide auch in Deutschland thematisiert und analysiert wird. Wir tauschten uns über unsere Erfahrungen aus und beschlossen, ein Buch darüber zu schreiben.

Mit diesem Buch wollen wir umfassend über Femizide aufklären. Wir beginnen mit einer Einordnung des Tatherganges und suchen eine Antwort auf folgenden Fragen: Wer sind die Opfer? Wie laufen die Taten ab? Gibt es wiederkehrende Muster? Wir widmen uns der Täterforschung und gehen der Frage nach, ob es bei Femiziden einen besonderen Tätertyp gibt. Aber wir schauen auch auf das, was nach einem Femizid passiert, und fragen, wie es den Kindern, den Eltern und den Geschwistern eines Femizidopfers ergeht. Wir diskutieren, ob Femizide in Deutschland...