Bleibt das jetzt so? - Die Depression, mein unperfektes Leben und ich

Bleibt das jetzt so? - Die Depression, mein unperfektes Leben und ich

von: Isabell Horn, Lisa Bitzer

Heyne, 2022

ISBN: 9783641290528 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Bleibt das jetzt so? - Die Depression, mein unperfektes Leben und ich


 

Das Ende

Auf der Straße explodieren Knallerbsen. Jedes Mal, wenn eine der bunten, papierumwickelten Kugeln auf den Asphalt schlägt und mit einem lauten »Peng!« den noch stillen Winterabend zerreißt, zucke ich zusammen. Wäre ich dazu in der Lage, würde ich aufstehen und ans Fenster gehen, um den Kindern aus der Nachbarschaft dabei zuzusehen, wie sie für den Jahreswechsel in ein paar Stunden üben.

Unten schlägt die Haustür zu, kleine Füße trappeln über den Boden, ich höre Fritz lachen. Jens ist mit den Kindern auf dem Spielplatz gewesen, ein letztes Mal in diesem Jahr. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie sie sich aus ihren Jacken, Mützen und Handschuhen schälen, alles auf den Boden fallen lassen und ins Wohnzimmer rasen. Jens hebt augenrollend ihre Kleidung auf und hängt sie ordentlich an den Haken. »Der Papa ist ja da«, höre ich ihn murmeln. Dann folgt er ihnen ins Wohnzimmer, wo es sich Ella und Fritz in ihrem Tipi gemütlich gemacht haben. Sie liegen auf den flauschigen Kissen umringt von Kuscheltieren, Spielzeug und Wimmelbüchern, für die Ella mit ihren fast vier Jahren eigentlich schon zu alt ist. Aber für ihren jüngeren Bruder tut sie alles. Auch Babybücher lesen.

Ich stelle mir vor, wie Jens ans Stoffzelt tritt, in die Hocke geht und unsere Kinder fragt: »Wer freut sich alles aufs Feuerwerk später?«

»Iiich, ich, ich!«, ruft Ella begeistert, wirft das Wimmelbuch zur Seite und klettert aus dem Tipi. Sie holt ihre Toniebox, setzt die Figur mit den Partyhits für Kinder obenauf und beginnt wild zu tanzen. Fritz, der erst seit ein paar Monaten laufen kann, versteht nicht, was ein Feuerwerk ist, aber tanzen kann er auch. Und so tobt die Rasselbande zu lauter Kindermusik durchs Wohnzimmer.

Ich wäre gern bei ihnen. Ich würde mich gern wie sie aufs neue Jahr freuen. Auf 2021, ein Jahr voller neuer Möglichkeiten und voller Hoffnung. In ein paar Tagen wird Joe Biden im Weißen Haus vereidigt. Die Pandemie scheint durch die Entwicklung mehrerer Impfstoffe gebändigt. Und in Kenia leben wieder mehr Elefanten. Es gibt jede Menge Gründe, um glücklich zu sein. Ich habe zwei fantastische Kinder und einen umwerfenden Ehemann. Ich habe zwei Jobs, die ich wirklich liebe. Ich habe Freunde, ich habe Freizeit, ich habe finanzielle Möglichkeiten.

Nur Lebensfreude habe ich keine mehr.

Ich schließe die Augen, drehe mich auf die andere Seite. Die Dämmerung setzt ein und färbt den Himmel in ein blasses Apricot. Heute war bestimmt ein schöner Tag. Ich habe nichts von ihm mitbekommen. Denn ich lag im Bett, die Decke bis unters Kinn gezogen, und habe geschlafen. Genau wie gestern. Und vorgestern. Und dem Tag davor.

Ein Klopfen an der Tür lässt mich erwachen. Wann bin ich eingenickt? Die Tür geht einen Spaltbreit auf, meine Tochter schlüpft hindurch und betritt das Schlafzimmer. Mit zögerlichen Schritten kommt sie ans Bett und setzt sich mit einer Pobacke auf die Matratze.

»Mama?« Ihre Stimme klingt zart, unsicher, wie ein Vögelchen, das die ersten Laute probt.

Ich drehe mich zu ihr um. Öffne die Augen. Versuche mich an einem Lächeln. »Hallo, mein Schatz.«

»Mama, was ist los mit dir?« Ella sieht mich aus sorgenvollen Augen an. »Bist du traurig?«

In meiner Kehle bildet sich ein Knoten, ich versuche, ihn herunterzuschlucken, doch es gelingt mir nicht. Ich fühle mich fürchterlich. Wie eine komplette Versagerin. Als mir die Tränen in die Augen steigen, blinzele ich sie weg und reiße mich zusammen.

»Ja, ich bin ein bisschen traurig«, erwidere ich und lege meine Finger auf Ellas kleine Kinderhand.

»Warum denn?«, fragt sie, weil Kinder eben diese Fragen stellen.

»Das weiß ich nicht«, antworte ich, obwohl ich die richtige Antwort kenne. Mir ist gerade alles zu viel. Ich habe das Gefühl, vom Gewicht der Welt erdrückt zu werden. Seit Wochen befinden wir uns in einem Lockdown light, der eigentlich vor Weihnachten enden sollte, jetzt aber nicht mehr enden mag. Die Kitas sind seit Monaten immer wieder zu. Am Anfang haben Jens und ich noch die Zeiten, in denen wir Ella und Fritz betreuen, untereinander aufgeteilt, während der jeweils andere sich zurückzog und versuchte zu arbeiten. Es blieb aber beim Versuch. Denn natürlich verstanden die beiden nicht, wieso Mama zu Hause war, aber nicht gestört werden durfte. Andauernd kamen sie ins Büro und wollten etwas von mir. Irgendwann, als ich mit den Nerven bereits am Ende war, mietete ich mir ein Airbnb-Zimmer in der Nähe an, um dort ein paar Stunden am Tag in Ruhe arbeiten zu können. Jens konnte weiterhin in sein Büro, weil alle Mitarbeiter im Homeoffice waren. Doch auch das Airbnb half nicht gegen das Gefühl der Hilflosigkeit, das sich Tag für Tag weiter in mir ausbreitete. Und der Winter tat sein Übriges. Ich bin ein Sommerkind, liebe die Wärme, den blauen Himmel und die strahlende Sonne. Bei Temperaturen um die null Grad, tagelanger grauer Wolkendecke und »vereinzelten Schauern mit gebietsweise Nebel«, wie es in der Wettervorhersage immer so schön heißt, fühle ich mich wie eine Pflanze, der man Licht, Erde und Sauerstoff genommen hat. Ich habe das Gefühl, dass es mit jedem Tag schlimmer wird. Es gibt keinen Silberstreif am Horizont. Kein Licht am Ende des Tunnels. Keine Aussicht auf Besserung. Es gibt nur mich, diese unendliche, tiefschwarze Leere in meinem Inneren und die Traurigkeit, die mich von innen aufzufressen scheint. Jede Stunde verschlingt sie mehr von mir, und an jedem Morgen, an dem ich aufwache, meine ich, etwas mehr verschwunden zu sein. Ich löse mich auf.

Vielleicht bin ich in ein paar Wochen ja einfach nicht mehr da?

Ella streckt den Arm aus und reißt mich aus den düsteren Gedanken. Sie streichelt mein Haar. »Hast du nicht gern Geburtstag, Mama?«

Jetzt kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten und wende den Kopf ab, damit Ella sie nicht sieht.

»Doch«, murmele ich mit erstickter Stimme. »Ich bin nur sehr müde.«

Jens’ Stimme ruft von unten. Er hat Waffeln für die Kinder gemacht. Einen Moment lang bleibt Ella noch neben mir sitzen, dann schleicht sie lautlos aus dem Zimmer und schließt die Tür hinter sich.

Ich bin eine fürchterliche Mutter. Ich sollte mich schämen.

Die Stimme in meinem Kopf ist ein ständiger Begleiter, seitdem es mir nicht mehr gut geht. Sie kritisiert mich, macht mich fertig, sagt mir, dass ich mich nicht so anstellen soll.

Morgen, faucht sie im Fräulein-Rottenmeier-Tonfall, stehst du auf wie jeder normale Mensch, gehst duschen und machst deinen Kindern Frühstück. Das kann doch wohl nicht so schwer sein!

Es ist kein guter Vorsatz fürs neue Jahr, es ist ein Befehl. Die Stimme in meinem Kopf scheint zu wissen, dass sich jeder Gang ins Bad für mich wie ein unüberwindbares Hindernis anfühlt. Aber sie kann mir befehlen, was sie will: Ich werde es morgen vermutlich wieder nicht schaffen.

Aus heutiger Sicht weiß ich nicht, wie ich vor einer Woche noch bei meinen Eltern in Bielefeld am reichlich gedeckten Tisch sitzen und Weihnachten feiern konnte. Ich hockte zwischen den Menschen, die ich liebe, kleisterte mir den halben Tag lang ein falsches Lächeln ins Gesicht und trank mehr Alkohol, als meiner Leber und meinem Geisteszustand guttaten. Irgendwie schlug ich mich durch. Überlebte. Aß sogar, was ich seitdem so gut wie nicht mehr tue. Eigentlich liege ich nur noch hier und warte, bis ich mit dem Nichts in meinem Inneren verschmolzen bin.

Erneut dämmere ich in einen unruhigen, nicht erholsamen Schlaf. Als ich die Augen wieder aufschlage, steht Jens neben dem Bett.

»Deine Eltern haben angerufen«, sagt er in beruhigendem Tonfall. »Sie wollten dir zum Geburtstag gratulieren und …« Er zögert. »Sie machen sich Sorgen.«

Ich suche in meinem Hirn nach einer Reaktion, einem Gefühl, einem Gedanken. Aber da ist nur diese altbekannte, allumfassende Leere.

»Deine Mutter hat angeboten vorbeizukommen. Falls wir …« Wieder zögert er. »Hilfe brauchen.«

»Wir brauchen keine Hilfe«, erwidere ich und drehe mich auf der Matratze um, um Jens nicht mehr ins Gesicht blicken zu müssen.

Ich spüre seinen Körper, der sich hinter mir ins Bett legt. Er schlingt einen Arm um meine Taille, hält mich. Es ist mir unangenehm, weil ich seit Tagen nicht geduscht habe.

»Willst du nicht doch mal mit jemandem reden?«, flüstert er.

»Nein.«

Ich will im Bett liegen bleiben und mich auflösen. Nicht mehr da sein. Keine Belastung mehr sein, verschwinden.

»Meinst du nicht, dass …«

»Nein.« Ich liege da, steif wie ein Brett, und hoffe, dass er mich in Ruhe lässt. Dabei spüre ich seine Verzweiflung und Hilflosigkeit. Genau das sorgt aber dafür, dass ich mich noch schlechter fühle – obwohl ich das gerade eben noch für unmöglich hielt.

»Bleibt das jetzt so?«, fragt Jens, und ich kann hören, dass seine Stimme zittert.

Weil ich keine Antwort habe, gebe ich ihm auch keine. Ich weiß, dass ich in diesem Augenblick nicht nur eine fürchterliche Mutter, sondern auch eine entsetzliche Partnerin bin. Doch selbst wenn ich wollte, ich könnte mich gar nicht anders verhalten, als ich es tue.

Für eine Weile liegen wir schweigend da. Dann erhebt er wieder die Stimme: »Die Kinder wollen das Feuerwerk sehen. Gleich ist Mitternacht.«

Die unausgesprochene Frage hängt wie ein Damoklesschwert über dem Bett. Aber ich kann nicht mit nach draußen kommen und mir das Silvesterfeuerwerk anschauen. Ich kann nicht einmal drinnen am Fenster stehen. Ich kann nur hier liegen und darauf warten, dass es vorbeigeht....