Populärer Realismus - Vom International Style gegenwärtigen Erzählens

Populärer Realismus - Vom International Style gegenwärtigen Erzählens

von: Moritz Baßler

Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN: 9783406783371 , 408 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Populärer Realismus - Vom International Style gegenwärtigen Erzählens


 

Midcult – Wenn Populärer Realismus Kunst sein will.


Der Realismus und das Magische


In diesem Buch soll es eigentlich nicht oder allenfalls am Rande um Genreliteratur gehen. Im Zentrum werden Werke der Gegenwartsliteratur stehen, deren literarischer Anspruch deutlich höher angesetzt ist. Im Vergleich mit Fitzeks anspruchslosem Psychothriller auf der einen und experimentellen modernistischen Texturen auf der anderen Seite lässt sich dabei ein erster Befund festhalten: Populärrealistisch verfahren heutzutage auch Romane von Autoren, die von der Kritik als Hochliteratur eingestuft werden, indem man ihnen beispielsweise den Georg-Büchner-Preis verleiht, den lange Zeit wichtigsten deutschen Literaturpreis. Mosebach zum Beispiel hat ihn bekommen. Wie wir sahen, bringt das realistische Verfahren dabei neben leichter Lesbarkeit – und damit zumindest potentiell einem größeren Publikum – noch einen weiteren handfesten Vorteil: Realistisch verfasste Texte lassen sich nicht nur leicht und bequem lesen, sie lassen sich auch problemlos in andere Sprachen und Medien übertragen. Weil die Ebene der sprachlichen Zeichen hier keine besondere Rolle spielt, lassen sich diese viel leichter durch andere Zeichen ersetzen, als das bei sprachlich anspruchsvolleren Texten der Fall ist, man denke etwa an Lyrik.

Wenn Romane ‹mit Anspruch› jedoch auf der Zeichenebene mit ähnlich stereotypen und längst bekannten Wörtern, Wendungen und Bildern arbeiten wie Unterhaltungsliteratur und damit – durchaus wissentlich, wie wir sahen – hinter den Möglichkeiten zurückbleiben, die die literarische Moderne der Sprachkunst erschlossen hat, woraus speist sich ihr literarischer Anspruch dann eigentlich? Worauf gründet die Behauptung ihrer Literarizität? Werfen wir einen Blick auf den erfolgreichsten deutschen Roman der 2000er-Jahre, Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005):

Mario bat Humboldt, auch einmal etwas zu erzählen.

Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.

Alle sahen ihn an.

Fertig, sagte Humboldt.

Ja wie, fragte Bonpland.

Humboldt griff nach dem Sextanten.

Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein.

Es sei natürlich keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen, sagte Humboldt gereizt. Es komme keine Zauberei darin vor, niemand werde zu einer Pflanze, keiner könne fliegen oder esse einen anderen auf. Mit einer schnellen Bewegung packte er den Affen, der gerade versucht hatte, ihm die Schuhe zu öffnen, und steckte ihn in den Käfig.[1]

In der englischsprachigen Ausgabe von Kehlmanns Welterfolg, die 2007 erschien, findet sich an dieser Stelle die folgende Fußnote der Übersetzerin Carol Brown Janeway: «Alert readers will recognize this as a scientist’s prosaically exact rendition of Goethe’s Wanderer’s Nightsong. It must be said that Goethe did it better.»[2] Es ist dies der einzige Kommentar, den Janeway ihrer Übersetzung beifügt. Offensichtlich war es für sie kaum zu ertragen, Goethes bekanntes Gedicht Wandrers Nachtlied in einer Prosafassung verhunzt zu sehen, die weder von seiner poetischen Schönheit noch von seiner poetischen Bedeutung etwas übrig lässt. Für die Figuren des Romans, Alexander von Humboldts französischen Begleiter Bonpland und die südamerikanischen Ruderer, die hier den Rio Negro hinaufrudern, fehlt dieser ‹Übersetzung› denn auch ganz generell jede Qualität von Literatur, die für sie gleichbedeutend ist mit Geschichten Erzählen. Folgerichtig erwarten sie Unterhaltung, Amüsement, etwas inhaltlich Spektakuläres, das dazu angetan ist, sie von ihrer harten und monotonen Arbeit abzulenken.

Die Vermessung der Welt ist nun selbst ein komischer, leicht lesbarer Roman voller unterhaltsamer Geschichten der im Zitat benannten Art und überdies eines der meistgelesenen, national wie international erfolgreichsten deutschsprachigen Bücher aller Zeiten. Seine internationale Auflage lag acht Jahre nach der Erstausgabe bei über 6 Millionen Exemplaren, überdies liegen Adaptionen als Hörbuch, Hörspiel, Schauspiel und Film vor. Ich habe es auf Bücherregalen gefunden, auf denen sonst nur Ernährungsratgeber und Golf-Anleitungen standen. Man muss also einerseits davon ausgehen, dass auch ein Gutteil der Leserinnen und Leser der deutschen Originalfassung an dieser Stelle eine Fußnote sehr nötig gehabt hätte. Andererseits aber beschleicht einen der Verdacht, dass der Roman und sein Verfasser womöglich gar nicht so sehr die ästhetische Auffassung ihrer Übersetzerin von der Überlegenheit Goethe’scher Poesie teilen, sondern eher den Literaturbegriff ihres romanischen Figurenarsenals.

Bleibt nicht etwas von der phantasielosen Nüchternheit und Unbeholfenheit, die Gauß und vor allem Humboldt in diesem Roman charakterisieren, auch an Goethes Gedicht kleben, so wie es hier repräsentiert wird? In jedem Fall ist die Stelle auch poetologisch zu lesen, als Auskunft zu Kehlmanns eigenem Schreiben: Er gibt den vier indigenen Ruderern, die mit der Goethe-Paraphrase nichts anfangen können, die Vornamen bekannter lateinamerikanischer Romanciers (Julio Cortázar, Carlos Fuentes, Mario Vargas Llosa, Gabriel García Márquez),[3] allesamt Hauptvertreter des ‹Latin American Boom› der 1960er- und 70er-Jahre. In seinen Göttinger Poetik-Vorlesungen Diese sehr ernsten Scherze (2006) rühmt Kehlmann deren Magischen Realismus als «größte literarische Revolution der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts» und bewundert ihre «Romane als große Träume, in denen alles möglich ist» – unter anderem, dass Menschen sich in Pflanzen verwandeln, fliegen oder sich gegenseitig verspeisen. In Deutschland dagegen, klagt Kehlmann, «wollte man davon nicht viel wissen, knüpfte an den Dadaismus der Vorkriegszeit an, zog den Humor ab und nannte es ein Experiment. Lautpoesie und soziales Engagement – die zwei bedrückenden Eckpfeiler des radikalen Realismus.»[4]

Die zunächst heiter und harmlos wirkende Romanstelle führt uns also mitten hinein in die vertrackte Poetik des Populären Realismus ‹mit Anspruch›. Kehlmanns historische Verweise scheinen mir zwar nicht recht überzeugend – bei Nachkriegs-Lautpoesie etwa fällt einem ja vor allem Ernst Jandl ein, dem man Humor kaum absprechen wird, und wo wäre in der deutschen Nachkriegsliteratur «soziales Engagement» je eine Dominante gewesen? Doch wenn man Fragen historischer Stimmigkeit einmal beiseitelässt, kann man festhalten, dass Kehlmann zwei literarische Verfahren ausdrücklich ablehnt: zum einen das einer experimentellen Literatur, die sowohl mit den historischen Avantgarden als auch mit Poesie assoziiert ist, zum anderen das einer «radikalen» realistischen Schreibweise, die keinen Raum für das Magische lässt. Die vermeintlich beiläufig-humoristische Verballhornung von Wandrers Nachtlied im Roman kombiniert nun genau diese beiden Laster: Der humor- und phantasiefreie ‹radikale Realist› Humboldt versucht, Goethes Poesie in Prosa zu verwandeln. Es gelingt ihm dabei erkennbar nicht, Goethes lyrisches Genie adäquat zu vermitteln, doch scheint das an dieser Stelle letztlich gar nicht der entscheidende Punkt zu sein. Die Betonung liegt – in charakteristischer Verschiebung des Problems – vielmehr darauf, dass Humboldt als ‹typischer Deutscher› («Hier ist das Wirkliche so geordnet, dass wir in Planquadraten träumen.»[5]) das legitime Bedürfnis nach unterhaltsamen, magischen, aber dennoch realistisch erzählten Geschichten behandelt wie den enervierenden kleinen Affen. Woraus man schließen darf, dass Kehlmanns Alternative zur verklemmten Prosaik seiner Gelehrtenfigur eher diese magisch-realistischen Geschichten sind, wie man sie etwa in Hundert Jahre Einsamkeit und teilweise auch in Die Vermessung der Welt findet, und gerade nicht eine Poesie im engeren Sinne etwa Goethe’scher Symbolik. Carol Brown Janeways Unbehagen an dieser Stelle war folglich mehr als gerechtfertigt. ...