Einsatz am Limit - Was im Rettungsdienst schiefläuft - und warum uns das alle angeht

Einsatz am Limit - Was im Rettungsdienst schiefläuft - und warum uns das alle angeht

von: Luis Teichmann

Edition Michael Fischer, 2022

ISBN: 9783745910230 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 13,99 EUR

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Einsatz am Limit - Was im Rettungsdienst schiefläuft - und warum uns das alle angeht


 

Tag und Nacht für Sie im Einsatz

Der Rettungsdienst ist immer für uns da. Das lernen schon die Kleinsten in ihren Pappbilderbüchern: Mit Tatütata, rauscht er mit Blaulicht heran. So einfach ist es im echten Leben natürlich nicht. Nur, wie funktioniert der Rettungsdienst eigentlich?

Die Nummer für den Notfall

Schauen wir ein wenig hinter die Kulissen und erfahren etwas über den Aufbau und die Arbeitsweise des Rettungsdienstes, um dessen Probleme später besser verstehen zu können. Dabei möchte ich nicht allzu tief ins Detail gehen, schließlich soll das hier kein Fachvortrag werden. Zudem ist es aufgrund großer regionaler Unterschiede auch gar nicht möglich.

Was allerdings überall gleich ist, ist die Notrufnummer 112 für alle nicht polizeilichen Belange. Sie ist kostenlos und hat keine Vorwahl.

Good to know: Die 112 gilt in allen europäischen Ländern und wird auch Euronotruf genannt. Wählt man ihn zum Beispiel in den USA, leitet das Smartphone den Anruf an die dortige 911 weiter. Andersherum geht in Deutschland die amerikanische 911 an unsere 112.

Wird die Notrufnummer gewählt, landet man europaweit immer in der Leitstelle, die für den Telefonmast verantwortlich ist, in welchen sich das Handy eingewählt hat. Das hat den Vorteil, dass die Zuständigkeit direkt anhand des Standorts festgelegt wird. Nachteil ist, dass Sie aus dem Ausland über die 112 niemanden in Deutschland erreichen können. Auch innerhalb der Bundesrepublik ist es nicht möglich, einfach eine andere Leitstelle zu kontaktieren – für den Fall, dass Sie einen Notfall melden wollen, der sich woanders ereignet hat. Beispielsweise wenn Sie für Ihren Kollegen anrufen, der fünfhundert Kilometer entfernt allein im Homeoffice sitzt und mitten in einem Videocall zusammenbricht. Da kommt die Hilfe nur über Umwege: Entweder müssen Sie sich weiterverbinden lassen oder dem Disponenten (das ist die Person, welche in der Leitstelle die Notrufe entgegennimmt und die passenden Rettungsmittel alarmiert) die Situation schildern, und dieser entscheidet dann, was als Nächstes geschieht.

Im Laufe des Gesprächs wird er Ihnen die fünf W-Fragen stellen, die Sie sicher irgendwann schon einmal gehört haben:

  1. Wo ist das Ereignis?
  2. Was ist geschehen?
  3. Wie viele Verletzte/Betroffene?
  4. Wer ruft an?
  5. Warten Sie auf Rückfragen!

Nun befinden Sie sich als Anrufer in einer enormen Stresssituation, schließlich liegt ein Notfall vor. Da ist es schwer, sich im Vorfeld die Antworten auf diese Fragen zurechtzulegen. Das Einzige, worüber Sie sich aus meiner Sicht jedoch auf jeden Fall im Klaren sein müssen, ist: Wo sind Sie gerade? Ob man Sie automatisch orten kann, hängt nämlich leider vom technischen Stand der jeweiligen Leitstelle ab, mit der Sie sprechen. Haben Sie keinen Straßennamen parat, halten Sie nach markanten Orientierungspunkten Ausschau: Sehenswürdigkeiten, ein nahegelegenes Café oder Restaurant, eine Schule, was auch immer. Hauptsache, der Rettungswagen findet Sie.

Sollte die Verbindung während des Notrufes abbrechen, ist die Leitstelle mit diesen Angaben zumindest in der Lage, ein Rettungsmittel loszuschicken.

Ich halte es beispielsweise so: Wenn ich auf der Autobahn unterwegs bin und mein bekanntes Fahrwasser verlasse, merke ich mir die Kilometerschilder an der rechten Leitplanke. Sollte irgendetwas passieren, kann ich mit der Nummer der Autobahn, der Fahrtrichtung und dem letzten Kilometer ziemlich genau meinen Standort durchgeben: zum Beispiel A4, Fahrtrichtung Aachen, Höhe KM 45.0. Selbst im Wald gibt es Rettungspunkte. Vielleicht sind Ihnen die grünen Schilder mit weißem Kreuz schon mal aufgefallen. Die Buchstaben und Nummern darunter geben den Standpunkt an.

Nach dem Notfallort werden Sie als Nächstes gefragt, was genau passiert ist. Vereinzelt wird noch eine Rückrufnummer aufgenommen. Für längere Ausführungen oder gar beruhigende Worte bleibt allerdings keine Zeit. Dies hat zwei Gründe: Zum einen sitzt in der Leitstelle nur eine überschaubare Anzahl Mitarbeiter. Je nach Uhrzeit und Wochentag bewegen wir uns selbst in einer Millionenstadt im einstelligen Bereich. Deshalb ist der Disponent natürlich bestrebt, den Notruf so schnell wie möglich abzuarbeiten, um für den nächsten wieder zur Verfügung stehen zu können. Zum anderen gilt es, eine gesetzlich festgelegte Hilfsfrist einzuhalten. Diese beschreibt die maximale Zeit, die verstreichen darf, bis das erste qualifizierte Rettungsmittel am Notfallort eintrifft. Doch wie lang ist diese Hilfsfrist? Gern würde ich Ihnen an dieser Stelle versichern: In spätestens zehn Minuten sind wir bei Ihnen!

Und natürlich geben wir stets unser Bestes, um so schnell wie möglich an den Notfallort zu gelangen. Doch die genaue Festlegung, ab wann die Hilfsfrist tickt und wie viel Zeit verstreichen darf, hängt tatsächlich davon ab, in welchem Bundesland Sie sich befinden. Meist wird die Hilfsfrist ab Notrufannahme gemessen (in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Hessen, NRW, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt), manchmal beginnt diese aber erst beim Treffen der Einsatzentscheidung durch den Disponenten wie in Bremen oder Niedersachsen. In Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein gilt die Hilfsfrist ab der Alarmierung der Rettungsmittel, Bayern geht sogar noch einen Schritt weiter und stoppt die Zeit erst dann, wenn die Fahrzeuge losfahren. Thüringen wiederum wünscht sich nur, dass jede öffentliche Straße in einer Fahrtzeit von zwölf Minuten erreicht werden kann. Aber es geht noch weiter: Die Bundesländer unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Startzeit, sondern auch bezüglich der Dauer. Von acht bis fünfzehn Minuten ist alles vertreten.

Sie sehen an diesem kleinen Beispiel bereits, wie uneinheitlich und kompliziert das Notfallsystem in Deutschland ist. Und Kompliziertheit ist selten ein guter Ausgangspunkt für effizientes und qualitativ hochwertiges Arbeiten. Später berichte ich dazu mehr, aber jetzt zurück zu unserem Notruf. In den Bundesländern, in denen die Hilfsfrist ab Notrufannahme zählt, steht der Disponent zusätzlich unter Druck, den Anruf zügig abzuarbeiten. Denn planmäßig werden hier nur zwei Minuten für die Notrufannahme, die Alarmierung und das Ausrücken veranschlagt. Das bedeutet, je länger der Disponent sich mit Ihnen unterhält, desto mehr „schrumpft“ die Zeit, die für die Fahrt zum Einsatzort zur Verfügung steht, wenn man die Hilfsfrist einhalten will. Auch unabhängig von den formalen Vorgaben ist im Notfall ein zügiges Vorgehen angesagt. Ergo muss der Disponent sich darauf fokussieren, dass er rasch den Standort und die Information „mit Notarzt oder ohne“ erhält. Natürlich könnte er oder sie durch weiteres Nachfragen mehr herausfinden und dadurch möglicherweise unnötige Einsätze vermeiden, aber was, wenn sich der Notruf als echter Notfall entpuppt und jede Minute zählt?

Ein Dilemma: Teure Rettungsmittel sollen nicht im Gießkannenprinzip eingesetzt werden, und es macht absolut keinen Sinn, mit Blaulicht zu einer simplen Beule auszurücken. Nur was ist, wenn der Disponent sich in der telefonischen Einschätzung irrt, die Kopfverletzung sich letztlich als Schädelfraktur entpuppt und man in der Konsequenz ein Menschenleben verliert? Können Sie den Druck spüren, der diesen ersten Minuten eines Notrufs innewohnt?

Schauen wir, was als Nächstes passiert: Der Notruf wird nun in einem Einsatzleitsystem erfasst und das passende Rettungsmittel alarmiert. Dies könnte das schnellste Rettungsmittel sein, muss es aber nicht. Schließlich gilt es, die Zuständigkeiten zu beachten. Und das sieht so aus: Wenn Ihnen beispielsweise auf der Grenze von einer Kommune zur nächsten ein Unfall passiert, kann es sein, dass zwar in unmittelbarer Nähe ein Rettungswagen steht, dieser allerdings nicht zu Ihnen geschickt wird, da er zur Nachbarkommune gehört. Er würde erst dann zu Ihnen kommen, wenn in der für Sie zuständigen Kommune kein Fahrzeug mehr frei ist, welches Sie innerhalb der Hilfsfrist erreichen kann. In diesem Fall würde der Disponent in der benachbarten Leitstelle anfragen, ob das nahe liegende Rettungsmittel verfügbar ist. Klingt umständich? Ist es auch.

Für mich verliert beim Erleben solcher Szenarien der Satz „Im Notfall zählt jede Sekunde!“ seine Bedeutung, denn offenbar ist in Deutschland nur das bürokratische Erreichen der Hilfsfrist wichtig. Würde wirklich jede Sekunde zählen, sollte man meiner Meinung nach unabhängig von Gebietsgrenzen stets das nächste und damit schnellste Rettungsmittel alarmieren.

Sie merken, dass sich allein beim simplen Beschreiben eines Einsatzablaufes immer wieder Kritik einschleicht.

Doch durchlaufen wir den Prozess vom Notruf bis zum Einsatzort weiter: Die alarmierte Besatzung erhält in der Regel ein Fax (Sie haben richtig gelesen: ein echtes Fax, aus Papier, so, wie es die Gesundheitsämter benutzen. Sie haben davon sicher im Rahmen der Coronakrise gehört) und wird über das Piepen ihrer Melder über den Einsatz benachrichtigt. Unter einem Melder können Sie sich ein kreditkartengroßes Gerät vorstellen, das jeder Rettungssanitäter im Dienst bei sich trägt. Dort erscheinen auf einem kleinen Display die Einsatznummer, Adresse, das Alarmierungsstichwort (zum Beispiel CHIRU1 = Chirurgischer Notfall ohne Notarzt, oder PTÜR = Person hinter verschlossener Tür) sowie gegebenenfalls weitere Informationen, welche...