Das Wasser des Sees ist niemals süß

Das Wasser des Sees ist niemals süß

von: Giulia Caminito

Verlag Klaus Wagenbach, 2022

ISBN: 9783803143525 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 22,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Das Wasser des Sees ist niemals süß


 

Zuhause ist, wo das Herz ist


Wir leben in einem Viertel, das meine Mutter nur ungern Peripherie nennt, denn um zur Peripherie zu gehören, musst du wissen, was das Zentrum ist, und dieses Zentrum sehen wir nie, ich habe noch nie das Kolosseum besucht, die Sixtinische Kapelle, den Vatikan, die Villa Borghese oder die Piazza del Popolo, von der Schule aus machen wir keine Ausflüge, und wenn ich das Haus verlasse, dann nur, um mit meiner Mutter auf dem Markt im Viertel einzukaufen zu gehen.

An dieser Wohnung – fünf Meter breit und vier Meter lang – mag ich den Betonboden und die Blumenbeete, auf denen nur Gras wächst, niemand hat je daran gedacht, hier Blumen zu pflanzen, und auch meine Mutter hat sich geweigert, denn pflanzen bedeutet bleiben.

Das Wohnungsinnere, das ist eine Küche in einem Schrank, ist eine Liege, die man unter Marianos Bett hervorziehen kann, ist ein elektrischer Heizköper, den man selten einschalten soll beziehungsweise nur, wenn es wirklich kalt ist, ist ein Beatles-Poster über den vier verschiedenen Stühlen und dem Tisch, an dem wir essen, ist, das Bett meiner Eltern quietschen zu hören, wenn sie es treiben, denn es gibt nur einen Raum, und du kannst nicht einfach rausgehen und kannst dich auch nicht einfach im Bad einschließen, denn auch vom Bett oder von draußen aus hört man alles.

Die Wohnung, das bin ich als Kind, ich kenne nur diese kahle Betonfläche und bewohne sie zusammen mit meinem Bruder wie ein Königreich, sie gehört uns und niemandem sonst, wir graben, springen, kochen Brennnesseln und Ameisen, und auf dem Boden malen wir mit Kreide, die wir aus der Schule mitgenommen haben, Zahlen, Linien, Dreiecke und Quadrate, in die wir uns hineinsetzen, und von denen wir sagen, dass sie uns gehören, dort leben wir, in den Zeichen am Boden, die wir gezeichnet haben.

H-A-U-S sagen wir, und es genügen uns wenige Striche, die Wände und das Dach, die Fenster und die Tür.

Diesen Ort, den Schauplatz unserer Spiele und unserer frühesten Fantasien, gibt es, weil unsere Mutter es gewollt hat, vorher war dies hier das Reich von Kakerlaken, ein paar Mäusen und jeder Menge Spritzen, die durch das Kellergitter hineingeworfen oder von jenen zurückgelassen wurden, die im Hauseingang schlafen.

Unsere Mutter hat sich hohe, von meinem Vater geliehene Gummistiefel angezogen, um jede einzelne aufzusammeln und sie vor dem Entsorgen zu verbrennen; wenn du eine Spritze findest, sagt meine Mutter immer, musst du sie aus dem Weg räumen, denn wenn ein Kind darüber stolpert, ist es auch deine Schuld, weil du sie übersehen hast.

Sie hat Gift benutzt, hat meinen Vater aufgefordert, von der Baustelle eine Schaufel mitzubringen, und hat angefangen, zu jagen, zu töten, auszurotten.

Nach Monaten der Arbeit ist der Hof, auf den der zahnlose Mund unserer Souterrain-Wohnung geht, gereinigt, sie nimmt uns bei der Hand, bringt uns dorthin und sagt: Spielt.

Um diese Wohnung zu bekommen, hat sie ihre Großmutter um Geld gebeten, damit sie den Verwandten einer alten Frau, die dort gestorben war, die Ablöse zahlen konnte.

Dieses schimmelbefallene Loch in einem schäbigen Viertel voller Heroinsüchtiger und hinfälliger Alter hätte niemand kaufen wollen, und abgesehen davon hätte meine Mutter ohnehin nicht das Geld gehabt, um es zu kaufen, also war sie mit den Eigentümern übereingekommen und hatte begonnen, ihre Anträge zu stellen, um die Ansässigkeit auf reguläre Basis zu stellen, eine andere Wohnung zu suchen, eine wenigstens vorläufige Legalisierung der Verhältnisse zu erwirken.

Sie hatte gedacht, es würde nicht lange dauern, sie würde es irgendwie schaffen, man würde eine neue Wohnung für uns suchen, während wir hier warteten.

Also warten wir, warten so lange, dass meine Mutter am Ende nachgibt und sich daran macht, den Boden zu putzen und auszubessern, die Decke zu streichen und den Abfluss an der Badewanne zu reparieren, weil die römische Stadtverwaltung uns keine Wohnung geben will.

Das Ganze stützt sich auf das Gleichgewicht von etwas, das jederzeit einzustürzen droht, sich aber mit der letzten Wurzel am bröckeligen Gelände festkrallt – bis meine Mutter noch einmal schwanger wird und mein Vater, der nicht Marianos Vater ist, einen Arbeitsunfall hat: Er stürzt von einem Gerüst und bleibt querschnittsgelähmt.

Zur Heiratsurkunde und den Adoptionspapieren kommen nun diejenigen zur Invalidenrente hinzu, zu den Anträgen auf Arbeitslosengeld, die auf Beihilfe für kinderreiche Familien und jene, um meine Brüder in die Kinderkrippe geben zu können: Unser Leben besteht darin, die Stadt, den Bürgermeister, Italien anzubetteln, uns zu Hilfe zu eilen, aufgenommen und gerettet und nicht vergessen zu werden, unser Leben ist ein unentwegtes Bitten.

Als die Zwillinge auf die Welt kommen, bin ich sechs Jahre alt, und Mariano hasst uns alle, allen voran den Vater, der nicht der seine ist und der sich von einem mürrischen Menschen in ein sperriges und anstrengendes Möbelstück verwandelt hat, in einen Ofen, der nicht mehr funktioniert, einen Staubsauger, der nichts vom Boden aufnimmt, einen Boiler, der einen nach fünf Minuten unterm kalten Wasser stehen lässt, ein Stück altes Eisen, und Mariano will ihn wegschmeißen.

Mein Vater, bekannt für seine schallenden Ohrfeigen und seine Sexversessenheit, sitzt nun unbeweglich in seinem Rollstuhl, den meine Mutter über Verwandte im Krankenhaus aufgetrieben hat, hebt seine Beine nur eins nach dem anderen und isst nicht mehr zu Abend: Wozu soll so viel Essen gut sein?

In der Wohnung befinden sich jetzt ein regloser Mann, einer Statue ähnlich, wie Marmor, wie die Fliesen, wie der Türrahmen, wie die Mäuerchen, die das Haus einfassen, und eine geschäftige Frau, die zusammenträgt, verschiebt, poliert, aufräumt, kittet, vergiftet und mit dem Besen das Wasser rauswischt, wenn die Wohnung wegen des vielen Regens vollläuft. Der reglose Mann ist mein Vater, die andere, die Unermüdliche, ist die Frau mit den roten Haaren, die Antonia Colombo heißt.

Ich habe kein Spielzeug und wenige Freundinnen, bei allen Dingen muss ich mit ihrer schlechten Kopie vorliebnehmen: die aus Stoffresten zusammengenähte Puppe, der von einem anderen Mädchen übernommene Schulranzen mit ihrem Gekritzel darauf, die Schuhe vom Markt, nicht in einer Schachtel nach Hause gebracht, sondern in einer Plastiktüte und mit schon abgelaufener Sohle, statt der Weihnachtsbeleuchtung Mandarinen, statt Barbie-Puppen ihre aus Illustrierten ausgeschnittenen Fotos.

Ich denke, wir sind Abfallmaterial, nutzlose Karten in einem komplizierten Spiel, angeschlagene Billardkugeln, die nicht mehr richtig rollen: Wir sind unbeweglich am Boden liegengeblieben wie mein Vater, der von einem unzureichend gesicherten Gerüst gefallen ist, auf einer illegalen Baustelle, ohne Vertrag und ohne Versicherung, und von hier unten aus sehen wir zu, wie die anderen sich Ketten mit Edelsteinen um den Hals legen.

Die Zwillinge sind winzige lärmende Kreaturen, sie schlafen in einer riesigen Schachtel voller Decken, die auf dem Küchentisch steht, und der Geruch ihrer Windeln vermischt sich mit dem der Minestra.

Mariano und ich verstehen nicht, warum wir noch immer hier sind, wir haben nie versucht abzuhauen, wir, ich und dieser Junge mit den dunklen Haaren, malen uns im Geheimen den Augenblick aus, in dem wir fliehen werden, und doch sind wir nie bereit, uns davonzumachen, um die nächste Ecke unseres Lebens zu biegen.

***

Wir sind Leute, die sich kaum im Latium auskennen, der Region, in der sie leben, und ebenso wenig in den Straßen Roms, ihrer Stadt, weil sich unser Bewegungsradius auf unser Viertel beschränkt, jenseits davon ist es zu teuer für uns, und niemand würde meiner Mutter Geld leihen oder Brot und Schinken gegen einen Tag ihrer Arbeit eintauschen.

Die Theorie meiner Mutter lautet: Wer dich nicht kennt, hilft dir nicht, also bleiben wir dort, wo man weiß, wer wir sind, und sie kleinere und größere Beziehungen von Schutz und Anerkennung knüpfen kann.

Mariano ist der Älteste und hat jeden von uns als Einmischung in die Beziehung zwischen sich und Antonia erlebt, eine Weile lang war sie alleinerziehende Mutter, und da haben die beiden einen einzelnen überlebensfähigen Organismus gebildet.

Was mich angeht, so toleriert er mich, weil ich keine Heulsuse bin und ihm schweigend zuhöre, wenn er Märchen und Dämonen auf mich loslässt, schreckliche Gruselgeschichten und Abenteuer, in denen das Mädchen immer stirbt und der Wolf immer gewinnt. Wir sind vier Jahre auseinander, und wenn man klein ist, scheint das viel mehr, er kommt mir erwachsen vor, fast alt. Er geht dazwischen, wenn man mich belästigt, in der Tat habe ich eine sauschlechte Meinung von den anderen Mädchen, betrachte sie mit Verdruss, sie scheinen mir etwas voraus zu haben, aber noch habe ich nicht meine Art gefunden, gegen sie anzugehen.

Da ist eine kleine Blonde, in meinen Augen Österreicherin, die mich Fledermausschnabel nennt, weil sie meint, ich hätte vorstehende Lippen, also stelle ich mich im Bad auf die Zehenspitzen, um das zu überprüfen, und mir kommt es keineswegs so vor, als hätte ich irgendeine Missbildung, ich weiß, dass die Fledermäuse früher mal Mäuse waren und keine Enten. Aber Beleidigungen unter Kindern müssen keinen Sinn ergeben, um zu verletzen: Anders, mangelhaft zu sein, schadet dir, angepasst zu sein hilft dir, dich unter die anderen zu mischen und nicht aufzufallen, wir sind mit unserem eigenen Kram schon kaputt genug, da können wir uns nicht auch noch auffällige Schnäbel oder Ohren...