Wie Kinder keine Arschlöcher werden - So erziehen wir unsere Kinder zu toleranten, mitfühlenden und selbstbewussten Menschen

Wie Kinder keine Arschlöcher werden - So erziehen wir unsere Kinder zu toleranten, mitfühlenden und selbstbewussten Menschen

von: Melinda Wenner-Moyer

Gräfe und Unzer Autorenverlag, ein Imprint von GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH, 2022

ISBN: 9783833886362 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Wie Kinder keine Arschlöcher werden - So erziehen wir unsere Kinder zu toleranten, mitfühlenden und selbstbewussten Menschen


 

EINLEITUNG


MEINE FREUNDIN MILLIE erinnert sich noch heute an einen Vorfall vor drei Jahren, als ihr damals fünfjähriger Sohn etwas unverhohlen Rassistisches sagte. Damals machte sie mit ihrer Familie Urlaub in Florida, und nach einer Woche intensiver gemeinsamer Zeit hatten sie eine Babysitterin engagiert, um als Eltern einen Abend ausgehen zu können. Diese war Afroamerikanerin.

Am nächsten Tag fragte Millie ihren Sohn, ob er Spaß mit seiner Babysitterin gehabt hatte. »Nein, ich mochte sie nicht«, antwortete er. Als Millie nachfragte, warum, sagte ihr Sohn ganz nüchtern: »Weil sie schwarze Haut hatte.«

Millie war beschämt und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie und ihr Mann hatten gedacht, sie würden ihre Kinder zu respektvollen und vorurteilsfreien Menschen erziehen, aber plötzlich waren sie sich nicht mehr so sicher. Und sie hatten keine Ahnung, was sie denn anders machen sollten.

Die allermeisten Eltern – mich eingeschlossen – möchten, dass ihre Kinder zu freundlichen Zeitgenossen heranwachsen. Im Jahr 2020 befragte die Zeitschrift Parents mehr als zwölfhundert Eltern im ganzen Land, was sie sich am meisten für ihre Kinder wünschen. Bei dieser Umfrage gaben 73 Prozent der Mütter und 68 Prozent der Väter an, dass Liebenswürdigkeit die wichtigste Eigenschaft sei, die sie ihren Kindern mit auf den Weg geben wollten. Diese Eigenschaft hatte für sie einen noch höheren Stellenwert als Intelligenz, Individualität und gute Arbeitsmoral. In ähnlicher Weise befragte Sesame Workshop, die gemeinnützige Organisation hinter der Sesamstraße, 2016 mehr als zweitausend amerikanische Eltern von Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren sowie fünfhundert Grundschullehrer. Etwa drei Viertel der Eltern und Lehrerinnen meinten, es sei wichtiger, dass Kinder gutherzig sind, als dass sie gute Noten haben.

In der oben erwähnten Umfrage von Parents vertraten 76 Prozent der Mütter und 58 Prozent der Väter die Meinung, die Kinder von heute seien nicht mehr so nett wie die Kinder früher. Die Eltern in der »Sesame Workshop«-Umfrage sahen das ähnlich: 67 Prozent empfanden die meisten Kinder heutzutage als respektlos und 43 Prozent fanden darüber hinaus, dass auch ihre eigenen Kinder nicht sehr rücksichtsvoll seien. Viele Eltern würden das Gute in ihren Kindern gerne bewusst fördern, wissen aber nicht so recht, wie sie das anstellen sollen.

In den letzten neun Jahren habe ich meinen Hintergrund als Wissenschaftsjournalistin genutzt, um mich über die aktuelle Forschung zur Kindesentwicklung und -erziehung zu informieren. Ich schreibe regelmäßig Elternkolumnen für das Onlinemagazin Slate und habe schon Dutzende von Artikeln zum Thema Erziehung für die New York Times verfasst. Zu diesem Zweck beschäftige ich mich mit wissenschaftlichen Publikationen zu komplizierten Erziehungsfragen, gehe sie mit Experten durch und übersetze sie in einfache Erziehungsratschläge – Ratschläge, die von wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert werden. Bei dieser Arbeit war ich oft überrascht, und manchmal sogar schockiert darüber, was die Wissenschaft den Eltern empfiehlt … und wie sehr sich diese sachkundigen Anleitungen von dem unterschieden, was ich vorher angenommen hatte.

Nehmen Sie zum Beispiel das Thema Rassismus, das nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd, Breonna Taylor und anderen Schwarzen im Jahr 2020 für viele Eltern zu einem drängenden Problem wurde. Während Schwarze Personen in den USA regelmäßig mit ihren Kindern über das Thema race sprechen – es bleibt ihnen gar keine andere Wahl –, vermeiden die meisten weißen Eltern, darunter auch meine Freundin Millie, das Thema, in dem wohlmeinenden Versuch, ihre Kinder »farbenblind« zu erziehen. Wenn sie die unterschiedlichen Ethnien nicht erwähnten, so denken diese Eltern, werden ihre Kinder sie vielleicht gar nicht bemerken. Die Forschung zeigt jedoch eindeutig, dass Kinder Ethnien wahrnehmen – und dass sie, wenn ihnen kein Rahmen zur Verfügung gestellt wird, in dem sie sich einen Reim darauf machen können, vorschnelle Rückschlüsse ziehen. Sie sehen, dass Weiße tendenziell mehr Macht und Reichtum haben als andere Menschen, und dann nehmen sie an, dies liege daran, dass Erstere irgendwie besser oder klüger seien.

In einem Interview mit der Grundschullehrerin Naomi O’Brien, der Mitautorin einer Reihe von Elternratgebern zum Thema Rassismus, erzählte sie, sie erlebe regelmäßig, wie weiße Schulkinder rassistische Dinge sagen und tun (wie etwa, indem sie mit einem Mitschüler wegen seiner »schmutzigen Haut« nicht spielen wollen), ohne dass ihre Eltern ihnen solche Vorurteile vermittelt hätten. Erschwerend kommt hinzu, dass weiße Kinder, wenn sie versuchen, mit ihren Eltern über das Thema der unterschiedlichen Hautfarben zu sprechen, laut O’Brien »zum Schweigen gebracht werden und ihnen gesagt wird, darüber rede man nicht; sie verinnerlichen dann, dass das Thema Hautfarbe ein Tabu ist«. Durch wissenschaftliche Forschungen ist jedoch klar belegt, dass weiße Eltern mit ihren Kindern explizit über die Existenz ethnischer Gruppen sprechen müssen, um das Entstehen rassistischer Vorurteile zu verhindern.

Ohne es zu wollen oder sich dessen bewusst zu sein befeuern Eltern oft auch sexistische Vorstellungen, indem sie Mädchen andere Botschaften vermitteln als Jungen – Botschaften, die die oftmals frauenfeindlichen Tendenzen unserer Gesellschaft spiegeln. Beispielsweise, dass das Aussehen für Mädchen viel wichtiger sei als für Jungen. Letzteren wird wiederum beigebracht, sie dürften nicht weinen oder Angst haben. Und wenn wir den uralten Ratschlag befolgen, unsere Kinder den Streit unter Geschwistern selbst austragen zu lassen, verschlimmern wir die Rivalität unter ihnen eher noch und bringen sie möglicherweise zu der Überzeugung, Mobbing und Zwang seien geeignete Wege, um Konflikte zu lösen.

Manchmal bestätigt die Forschung unsere tief verwurzelten Erziehungsinstinkte, aber manchmal widerspricht sie ihnen auch auf faszinierende, zum Nachdenken anregende Weise – das ist einer der Gründe, warum ich beschlossen habe, dieses Buch zu schreiben. Ich wollte all die verblüffenden wissenschaftlichen Erkenntnisse teilen, die Eltern darin unterstützen können, ihre Kinder zu wunderbaren Erwachsenen großzuziehen.

SO VIELE ARSCHLÖCHER


Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Arbeit als Eltern heute wichtiger denn je ist. Die Welt sendet unseren Kindern gefährliche Botschaften darüber, wie sie sich verhalten und einander behandeln sollen: Diese Botschaften müssen wir dringend hinterfragen und ihnen entgegenwirken.

Bevor ich das weiter ausführe, möchte ich zunächst noch anmerken, dass sich Kinder meiner Ansicht nach manchmal durchaus wie Arschlöcher verhalten sollen. Sie müssen Grenzen infrage stellen, um sie zu verstehen, und sie müssen soziale Patzer machen, um daraus zu lernen. Ich bin dazu übergegangen, peinliche Momente als Lernmöglichkeiten für die Kinder zu betrachten – oder besser noch, als Weckrufe, die uns zeigen, woran wir als Familie arbeiten müssen.

Leider werden Eltern in der heutigen Zeit mit solchen Weckrufen förmlich bombardiert, denn es gibt zunehmend Vorfälle, bei denen sich Menschen ziemlich schlecht benehmen. So berichteten im Herbst 2018 Lehrer und Mitarbeiterinnen von Schulen für alle Altersstufen dem Southern Poverty Law Center [eine US-amerikanische Bürgerrechtsorganisation zur Bekämpfung von Rassismus], dass sie in den Monaten zuvor mehr als 3200 hassbezogene Vorfälle beobachtet hatten. In Monroe, Louisiana, wurde zum Beispiel ein Schüler verhaftet, weil er einem dunkelhäutigen Mitschüler eine Schlinge um den Hals gelegt hatte.

Und es scheint noch schlimmer zu werden. Von 2015 bis 2018 ist die Zahl der Hassverbrechen in den Vereinigten Staaten laut FBI um 21 Prozent gestiegen. Viele dieser Vorfälle wurden von Erwachsenen verübt, aber auch Kinder waren daran beteiligt. Das Mobbing scheint ebenfalls zu eskalieren. In den Jahren 2016 und 2017 befragte die Human Rights Campaign [eine der der größten LGBTQ+-Organisationen in den USA] mehr als fünfzigtausend dreizehn- bis achtzehnjährige Jugendliche, und 79 Prozent von ihnen waren der Meinung, Mobbingvorfälle seien in ihrer Schule schlimmer geworden. Als im Sommer 2017 Forschende der University of California, Los Angeles, 1535 Highschool-Lehrer befragten, gaben fast 30 Prozent an, dass ihre Schülerinnen mehr abfällige Bemerkungen über ihre Altersgenossen machten als im Vorjahr.

Dieser wachsende Mangel an Mitgefühl kann viele Ursachen haben. Eine Theorie ist, dass er zumindest teilweise durch den Aufstieg von Donald Trump angeheizt wurde. Der Gedanke, politische Persönlichkeiten könnten sogar Kinder beeinflussen, mag weit hergeholt erscheinen. Aber Trumps Rhetorik – zu der Lügen, Verharmlosung sexueller Übergriffe, Verspottung von Behinderten und die Bezeichnung von Ländern mit mehrheitlich Schwarzer Bevölkerung als shit hole countries (Dreckslochländer) gehören – war jahrelang überall im Fernsehen und im Internet zu hören und durchdrang so manches Gespräch beim Abendessen. Sie hat sich möglicherweise direkt auf unsere Kinder ausgewirkt.

Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Unterstützung für Trump und Mobbingverhalten zusammenhängen. Im Rahmen einer im Januar 2019 veröffentlichten Studie untersuchten die Schulpsychologen Dewey Cornell und Francis Huang Hänseleien und Schikanen in Mittelschulen in Virginia vor und nach der Präsidentschaftswahl 2016. Vor der Wahl war die Quote der registrierten Vorfälle in allen Schulen des...