Ich! - Selbstbildnisse in der Moderne

Ich! - Selbstbildnisse in der Moderne

von: Uwe M. Schneede

Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN: 9783406797781 , 241 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 22,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Ich! - Selbstbildnisse in der Moderne


 

Von der Verhöhnung zur Anerkennung


«Geschrei und Gelächter»


Niemand war auf die künstlerische Revolution der Modernen mit ihren individuell geprägten Themen und besonders ihren eigensinnigen Macharten vorbereitet und kaum jemand willens, sich auf ihre Werke einzulassen. Als James Ensor im belgischen Ostende um 1880 mit heute durchaus konventionell anmutenden Interieurs an die Öffentlichkeit zu treten begann, folgte eine hämische Kritik der anderen: «Verrücktheiten», «Gemeinheiten», «Geschmiere», «Augenkrankheit». Darauf reagierte er künstlerisch zunehmend aggressiv. Sein zentrales Bildmotiv wurden grelle Masken aus dem Karneval, dem saisonalen geselligen Vergnügen seiner Ostender Mitbürger. «Diese Masken» schrieb er in einem Brief von Ende 1894/Anfang 1895, «gefielen mir auch, weil sie das Publikum verletzten, das mich so schlecht aufgenommen hatte». Die verzerrten Visagen in starken Farben waren ihm das willkommene Mittel, die Erstarrung des Bürgertums zu geißeln und es damit den Verächtern seiner Kunst bildlich heimzuzahlen.

Da die Neuerer sich nicht an die akademischen Richtlinien hielten, die rundum die Maßstäbe setzten (und die Ensor gern als «Feinde der Erfindung» bezeichnete), fehlte ihnen jeglicher gesellschaftliche Rückhalt. Davon sprechen besonders deutlich ihre Selbstbildnisse.

Überall entrüstete man sich über die Neuerer. Als der 23-jährige Norweger Edvard Munch 1886 in Kristiania (heute Oslo) Das kranke Kind schuf, in dem er seinen Schmerz nach dem frühen Tod der Schwester ausformulierte und damit ein gesellschaftliches Tabu brach, hieß es in der Kritik, das Bild sei eine «Narretei», gar eine «Schweinerei», roh ausgeführt und halbfertig, im Delirium entstanden, Munch ein Wahnsinniger. «Als ich am Eröffnungstag den Saal betrat», bezeugte Munch, «standen die Menschen dicht gedrängt vor dem Bild. Ich konnte Geschrei und Gelächter hören.»[3]

So ging es auch den anderen. In «Ausrufen und Gelächter» ergoss man sich vor Ferdinand Hodlers Werken; Paul Gauguin berichtete 1890 in einem Brief an den Kollegen Émile Bernard von einer Menschengruppe, «die vor meinen Bildern Krawall macht»; Munch wagte sich 1894 nicht in seine Hamburger Ausstellung, «so hagelten die Beschimpfungen»,[4] und der Kunstkritiker George Rivière, Zeitgenosse der Impressionisten, bezeugte, woran Franz Roh in seinem Buch Der verkannte Künstler (1948) erinnerte: «Man tritt vor die Bilder des Herrn Cézanne, um sich das Zwerchfell zu erschüttern.»

Kollegen schreckten ebenfalls nicht zurück. Der Vorsitzende des Vereins Berliner Künstler, der Historienmaler Anton von Werner, der im wilhelminischen Reich in allen Kunstfragen – vor allem beim Kampf gegen die Moderne – maßgeblich war, soll Munchs Werke nach dem Bericht des Bildhauers Max Kruse als «Hohn für die Kunst, als Schweinerei und Gemeinheit» bezeichnet haben.[5] Gemessen an den gängigen, von den Akademien geprägten Normen perfekt geglätteter Oberfläche erschienen die neuen Werke schockierend roh; das mutmaßlich Unfertige wurde als Verstoß gegen festgefügte Regeln geahndet und als böswillige Verletzung von Sitte und Anstand gegeißelt.

Die stehende Rede vom Irresein der Neuerer wirkte sogleich auf sie zurück. Ensor kratzte 1887 selbst in eine Radierplatte: «Ensor est un fou» (Ensor ist ein Irrer), van Gogh lenkte ein: «Ich gedenke, meinen Beruf als Verrückter ebenso gelassen hinzunehmen wie Degas den Beruf als Notar»,[6] und Munch schrieb in den feuerroten Himmel einer seiner Versionen von Der Schrei: «kan kun være malet af en gal mand» («kann nur von einem Verrückten gemalt sein»). Van Gogh, der seine eigene Lage genau erkannte und ernüchternd schildern konnte, wusste sich diesen Umstand als eine Folge zu erklären: «Die neuen Maler, einsam und arm, werden wie die Verrückten behandelt, und infolge dieser Behandlung werden sie es tatsächlich, wenigstens, was ihr soziales Leben betrifft» (Brief 514).

So agierten sie in ihrer Arbeit noch konsequenter, radikaler. Was den Zugang des Publikums zu den Werken naturgemäß weiter erschwerte. Nicht nur Ensor wollte mit seinen Bildern das Publikum ausdrücklich verletzen, auch Gauguin verkündete 1889, er beabsichtige, immer unverständlicher zu werden, und Munch notierte 1891: «Ich fühle, dass ich mich mehr und mehr vom Geschmack des Publikums entferne. Ich fühle, dass ich noch mehr Ärgernis erregen werde».[7]

Allerdings fanden diese Künstler auch Möglichkeiten der Gegenwehr: künstlerisch, wie sich zeigen wird, mit Hilfe der Selbstbildnisse, die in dieser Situation oft eine zusätzliche inhaltliche Aufladung erfuhren, und kunstbetrieblich durch Vorschläge und Maßnahmen zur Verbesserung ihrer eigenen Lage, und zwar noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

So plante van Gogh 1888 in Paris gemeinsam mit den Freunden Gauguin und Émile Bernard, aber schließlich auch mit denen, die ihn mit ihrem Werk beeindruckt oder die er gar kennengelernt hatte, mit Edgar Degas, Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir, Alfred Sisley, Camille Pissarro und Georges Seurat einen Verein derer zu gründen, die vom Kunsthandel nicht akzeptiert wurden. Jeder sollte nach genau durchdachtem Konzept Bilder mit einem bestimmten Wert bereitstellen, und der Direktverkauf könnte dann «das materielle Dasein der Maler» ermöglichen. Doch kam das Prinzip Produzentengalerie bei weitem zu früh.

Gleichzeitig begannen die Künstler, ihre Ausstellungen selbst zu organisieren, gegen die Salons und unabhängig von ihnen. Den Anfang hatte Gustave Courbet gemacht. Zur Weltausstellung 1855 in Paris, in der er sich zu wenig beachtet fand, baute er kurzerhand in zentraler Lage einen Pavillon, in dem er 40 seiner Gemälde zeigte, darunter die Hauptwerke. Zum ersten Mal in der Moderne bestimmte ein Künstler unabhängig den Raum für die Präsentation seiner Kunst, die Werkauswahl, die Hängeweise, die Vermittlung und die Werbung (überall in Paris waren Plakate zu sehen). Man hat diese Manifestation als Anfang der Moderne bezeichnet, weil sich die neue Kunst hier tatsächlich und symbolisch von der alten und ihren Regularien abwandte.

Abgelehnt von den Jurys wie von der Kunstkritik, folgte der etwa um eine halbe Generation jüngere Édouard Manet 1867 diesem Beispiel, gleichfalls parallel zu einer Weltausstellung. 1874 präsentierten die französischen Impressionisten im Pariser Atelier des Photographen Nadar selbstständig die erste ihrer acht Ausstellungen. 1887 organisierte van Gogh im Restaurant du Chalet an der Avenue de Clichy eine umfangreiche Schau mit Werken seiner Freunde, auch etwa hundert Bildern von ihm selbst. Parallel zur Weltausstellung 1889 führte Gauguin gemeinsam mit seinem Freund Emile Schuffenecker in der großen Halle des Grand Café des Beaux Arts am Champ de Mars, nach seinem Besitzer Café Volpini genannt, die fast hundert Werke umfassende, mittlerweile legendäre Volpini-Ausstellung durch, die den von ihm, Gauguin, propagierten Synthétisme durchsetzen sollte.

Zugleich entstanden die ersten Zusammenschlüsse unabhängiger Künstler. 1883 gehörte Ensor zu den Gründern des Salons der Gruppe Société des Vingts (Les XX) in Brüssel, ein Jahr später entstand in Paris unter Mithilfe von Seurat, Signac und Redon der Salon des Indépendants, Salon der Unabhängigen, in den 1890er Jahren kamen die Sezessionen in München, Wien und Berlin zustande. Sämtlich wurden sie von Künstlern initiiert. Diese unabhängigen Ausstellungen, die bald ihre eigene Kritik, ihr eigenes Publikum und ihren eigenen Markt erzeugten, wurden zu einem unabdingbaren Faktor bei der Durchsetzung der Moderne. Ihren Ursprung hatten sie, als die Künstler es am schwersten hatten.

Erste Anerkennungen und einsetzender Kunstbetrieb


In Kunstdingen brachte das neue Jahrhundert gleich anfangs eine ungeahnte Dynamik mit sich – und das hatte weitgehende Folgen auch für die Selbstbildnisse. Erste Anzeichen waren die nun einsetzenden Retrospektiven für die kürzlich noch Geächteten. Von Vincent van Gogh präsentierte der Pariser Salon des Indépendants 1905 eine...