Foodguide Jüdische Küche - Geschichten - Menschen - Orte - Trends

Foodguide Jüdische Küche - Geschichten - Menschen - Orte - Trends

von: Gunther Hirschfelder, Antonia Reck, Markus Schreckhaas, Jana Stöxen

Verlag Hentrich & Hentrich, 2023

ISBN: 9783955656034 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 23,99 EUR

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Foodguide Jüdische Küche - Geschichten - Menschen - Orte - Trends


 

Weiter Raum — leerer Raum


Esskultur ist zunächst abhängig von Landschaft und Klima, denn die Landwirtschaft ernährt Stadt und Dorf; nur wer es sich leisten kann, kauft Güter aus der Ferne. So sind alle Küchen eng mit der sie umgebenden Region verzahnt. Die jüdische aber nicht ausschließlich. Sie wird bei Tisch gelebt. Neben dem zentralen Element der Befolgung der jüdischen Speisegesetze Kaschrut geht es vor allem um die Gemeinschaft bei Tisch. In jüdischen Haushalten finden wir eine Küche, die weniger stofflich oder geografisch konstituiert ist als vielmehr kulturell und sozial. Jüdisches Leben in Europa war kaum jemals mit Staats- und Sprachgrenzen deckungsgleich. Erzwungene Mobilität ist historische Konstante jüdischer Lebenswelten.

Im sechsten Jahrhundert v. d. Z. wurden Jüdinnen und Juden aus ihrer Heimat Judäa ins babylonische Exil gezwungen. In der Antike folgten viele von ihnen als Kaufleute dann römischen Truppen bis in die entlegensten Winkel des Imperiums. 70 n. d. Z. wurde der Zweite Jerusalemer Tempel (Bet HaMikdasch) von römischen Truppen geplündert und zerstört, und Kaiser Hadrian erließ 135 n. d. Z. ein Ansiedlungsverbot für Juden in Jerusalem. Das Exil der Jüdinnen und Juden und ihrer Küche hatte endgültig begonnen und es sollte bis zur Gründung des Staates Israel 1948 währen. Daher gab es jüdische Esskultur seit der Antike überall dort, wo Jüdinnen und Juden siedelten, zunächst v. a. in den Handelsmetropolen.

Seit dem Hochmittelalter treten jüdische Siedlungsgebiete dann deutlicher zutage. Sie lagen zunächst rund um das Mittelmeer, vor allem im Nahen Osten, in Griechenland und auf der Iberischen Halbinsel, daneben im Raum zwischen Rhein, Mosel und Ardennen. Jene Verfolgungen, die seit dem elften Jahrhundert einsetzten, brachten erneut eine große Zerstreuungswelle mit sich. Vor allem Ostmitteleuropa und Gebiete, die in den heutigen Staaten Polen, Belarus, Litauen, Ungarn und der Ukraine lagen, wurden zu einer Heimstatt jüdischer Kultur. Was und wie gegessen wurde, ist für diese frühe Zeit allenfalls bruchstückhaft überliefert. Es ist nur gesichert, dass die Kaschrut eine markante Rolle spielte.

Mit der Wende zur Neuzeit, also seit dem frühen 16. Jahrhundert, treten die räumlichen Strukturen deutlicher hervor. Ausgehend vom ersten Ghetto, das in der damaligen Weltmetropole Venedig entstand, setzte sich vielerorts eine räumliche und lebensweltliche Isolation der jüdischen Bevölkerung durch. Sozioökonomisch motivierter Antisemitismus und religiös motivierter Antijudaismus beförderten ein ablehnendes Klima zwischen jüdischer Minder- und zumeist christlicher Mehrheit. Diese anti-jüdische Feindschaft gipfelte oft in Schmutzkampagnen, Hetzjagden und Pogromen. Nicht selten wurde jüdischen Räumen ein brutales Ende gesetzt.

Durch die häufig gewaltsam herbeigeführten Wanderungsbewegungen erfolgte auch eine stärkere strukturelle Trennung der jüdischen Großgruppen: Die in Mittel-, Nord- und Osteuropa ansässigen Aschkenasim bilden bald die größte Gruppe, während die Sephardim, die heute etwa ein Drittel aller jüdisch gläubigen Menschen ausmachen, auf die im 13. und 14. Jahrhundert von der Iberischen Halbinsel nach Nordafrika oder Vorderasien vertriebenen Jüdinnen und Juden zurückgehen. Neben diesen dominierenden Gruppen gibt es außerdem die Mizrachim, Jüdinnen und Juden aus dem Nahen Osten, dem Kaukasus sowie dem indischen Raum, und die Bucharim aus Zentralasien, die vor allem mit der Staatsgründung 1948 ihre Heimat verließen, um sich in Israel anzusiedeln. Heute umfasst diese Gruppe kaum mehr 10 000 Personen – in vielen arabischen Ländern gibt es faktisch kein jüdisches Leben mehr.

Vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchten viele Jüdinnen und Juden neue Freiheiten im Norden Amerikas.

Vereinendes Element der unterschiedlichen jüdischen Gruppen waren neben der religiösen Prägung die Erfahrung von Marginalität und Migrationsdruck. Jüdisches Leben war einerseits breitflächig verteilt. Andererseits gab es durchaus ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und enge Kontakte zwischen den einzelnen Gruppierungen – auch wenn viele Jüdinnen und Juden im 19. Jahrhundert zum Christentum konvertierten und die Grenzen zwischen jüdischem und nichtjüdischem Leben, vor allem in Westeuropa und in den USA, bisweilen verschwammen.

Jüdisches Leben und damit auch jüdische Esskultur waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verstreut: Die Schwerpunkte lagen in Ostmitteleuropa und den USA. Dazu kamen ein breiter Strang, der vom Vorderen Orient bis in den Mittelmeerraum reichte, ein regelrechter Flickenteppich im deutschsprachigen Raum Mitteleuropas, der seine Zentren in den großen Gemeinden wie Köln, Berlin, Breslau, Frankfurt am Main, Fürth, Basel und Wien hatte, aber auch mit markanten ländlichen Clustern etwa im Rheinland oder in Mittelfranken in Erscheinung trat. Einige dieser Raumeinheiten waren enger miteinander verbunden, andere weniger. Hinzu kamen Zentren jüdischer Reisekultur wie etwa das böhmische Karlsbad. Nachdem der Publizist Theodor Herzl (1860–1904) 1896 in seinem zionistischen Grundlagenwerk „Der Judenstaat“ die Aufmerksamkeit auf Palästina gelenkt hatte, wurde zunehmend auch das Heilige Land (wieder) zum Bezugspunkt jüdischer Kultur.

Wer sich mit jüdischer Esskultur beschäftigt, sollte sich kaum auf den Raum innerhalb heutiger Grenzen beschränken. Man wird jüdischem Leben und seinem Alltag allenfalls gerecht, wenn man Diaspora und Migration grenzüberschreitend berücksichtigt. Daran orientiert sich auch die Raumstruktur des vorliegenden Buches, das eben keine Fläche abbildet, sondern ein Netz, dessen Verästelungen weltweit einzigartig sind.

Über lange Zeit hinweg hatte dieses Netz mehrere Zentren, wobei die prägendsten in Mittel- und in Osteuropa lagen. Das nationalsozialistische System, dessen Täter:innen und Anhängerschaft haben dieses Netz zerrissen. Die Mehrheit der Trägerinnen und Träger jüdischer Esskultur wurden systematisch ermordet, viele in den Suizid, einige wenige in Flucht und Exil getrieben. Die überlebende jüdische Esskultur bündelte sich im Nachgang der Schoah in Israel, den USA und Australien, aber auch in der Sowjetunion.

Jüdisches Leben konnte nach 1945 wieder neu entstehen, derweil jüdische Communitys in den USA, Südamerika oder Australien durch den Zustrom von Displaced Persons wuchsen und sich diversifizierten. Dennoch blieb Europa der Bezugspunkt, anhand dessen sich Herkunft und Zugehörigkeit manifestieren. Zeugnisse dafür liefern unter anderem die jüdischen Bevölkerungsteile der ehemaligen Sowjetunion, die zu großen Teilen nach 1990 als sogenannte Kontingentflüchtlinge ihre Länder verließen, um sich u. a. in Deutschland niederzulassen. Ähnlich begründete Dezimierungen ihrer Mitglieder erfuhren Gemeinden in Mitteleuropa und dem Baltikum: Jüdische Kultur u. a. in Polen, Tschechien, Ungarn, Litauen und der Ukraine ist heute meist als touristisch inszeniertes Event anzutreffen und von ihren Ursprüngen in Praxis und Zweck weitgehend losgelöst.

Doch auch darüber hinaus wandelt sich jüdische Esskultur mit dem Lauf der Geschichte und ihrer Trends: Die aschkenasische und sephardische Küche, die vormals Europa und seinen Nahraum unter sich aufgeteilt hatte und mit Gerichten und Gebäck wie Tscholent oder Hamantaschn füllten, begegnen nun modernen Interpretationen und Fusionen. Auch die Globalisierung wirkt daran mit: Nahöstliche, z. T. auch mizrachische Gerichte wie Falafel, Hummus oder Shakshuka sind in Israel ebenso verbreitet wie mittlerweile in weiten Teilen der urbanen westlichen Welt.

Junge Menschen aus Israel oder den USA kommen bei Reisen nach Zentraleuropa ihrer Familiengeschichte auf die Spur oder lassen sich zeitweise in Großstädten wie Berlin nieder. Zusammen mit ihren aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Glaubensschwestern und -brüdern, die heute häufig schon der zweiten Migrationsgeneration entstammen, geben sie dem modernen Judentum ein markantes Gesicht, das wieder Sorgen- mit Lachfalten vereint. Seit geraumer Zeit prägen Menschen jüdischer Sozialisation damit die Kultur- und Foodszene an der Spree und anderswo und bringen jüdische Lebenswelten in einen Raum, in dem sie lange verschwunden oder unsichtbar waren. Die Hybridität der modernen jüdischen Küche und ihre Anschlussfähigkeit an diverse Ernährungsgewohnheiten sind auf der Höhe der Zeit. Sie schafft neue Anknüpfungsmöglichkeiten für einen Dialog über den Esstisch hinaus – ganz gleich, ob dieser in einer deutschen Mensa, einem amerikanischen Diner oder einem Imbiss am Mittelmeer steht.

Das Jüdische in den regionalen Esskulturen – und das Regionale in den jüdischen – wird neu hervorgehoben und vielfältig ausgelegt. Allerdings passiert dies in einem überschaubaren Rahmen: Eine...