Staatenlosigkeit - Eine moderne Geschichte

Staatenlosigkeit - Eine moderne Geschichte

von: Mira L. Siegelberg

Hamburger Edition HIS, 2023

ISBN: 9783868544831 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 35,99 EUR

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Staatenlosigkeit - Eine moderne Geschichte


 

EINLEITUNG


Kurt Schwitters formulierte 1930 in einem Brief, was ihn zu seinen Merzbildern, einem Typus gemalter Collagen, antrieb, den er gegen Ende des Ersten Weltkriegs geschaffen hatte: »Kaputt war sowieso alles, und es galt, aus den Scherben Neues zu bauen.«1 Schwitters’ Collagen aus den 1920er Jahren bestehen aus dem Alltagsmüll moderner Zeiten – alte Fahrkarten, Knöpfe, Zugfahrpläne, Busrouten, Zeitungsausschnitte –, der zu gitterartigen Kompositionen aus abstrakten Formen, Farben und Linien zusammengesetzt wurde. Zu etwas völlig anderem umgeformt, vermitteln die arrangierten Fragmente in gewissen Momenten starre Linien, die klar abgegrenzte Territorien trennen, während sie in anderen Momenten zeigen, wie diese Gebiete sich überlappen und verschmelzen.

Wie so viele der in diesem Buch erwähnten Personen wurde auch Schwitters durch die politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts staatenlos. In seinem Fall bedeutete das, dass er die Sicherheit seiner deutschen Staatsbürgerschaft verlor, als er 1937 aus dem nationalsozialistischen Deutschland flüchtete und schließlich in Westlondon Zuflucht fand, allerdings erst, nachdem er als Angehöriger einer feindlichen Nation auf der Isle of Man interniert worden war. Schwitters’ Merzbilder aus den 1920er Jahren sind ein passender Ausgangspunkt für diese Studie zur Staatenlosigkeit – nicht in erster Linie wegen seiner Biografie, sondern weil seine Werke aus dieser Zeit eindrucksvoll vermitteln, wie der Erste Weltkrieg die grundlegenden Konzepte erschütterte, die die damalige politische Wirklichkeit definierten. Es schien, als müsste die Weltkarte völlig neu gezeichnet werden. Die Merzbilder stammen aus dem Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg, das in der ersten Hälfte dieses Buches rekonstruiert wird, einer Ära, in der Imperien zusammenbrachen und neue Staaten entstanden, in der Massen von Menschen, die durch ihren Ausschluss aus jeglichem politischen Gemeinwesen definiert waren, Einzug in die internationale Politik hielten und zum Gegenstand intensiver Debatten über die Grundlagen politischer Ordnung wurden.

Das Konzept der Staatenlosigkeit hängt unmittelbar mit einer Vielzahl von Fragen zur politischen Organisation der Menschheit zusammen. Es erinnert an heftige Konflikte darüber, wann und wie Gemeinschaften, die sich selbst regieren wollen, Anerkennung als unabhängige und autonome Akteure finden. Zudem verweist es auf die Not der mehr als siebzig Millionen Menschen, die gegenwärtig auf der ganzen Welt zwangsweise vertrieben werden. Bezogen auf die wachsende Zahl derjenigen, deren Länder unter den Wellen des Pazifiks versinken, offenbart »Staatenlosigkeit« die Grenzen der Definition, die das Völkerrecht für Eigenstaatlichkeit und politische Zugehörigkeit zugrunde legt, da der Klimawandel die territoriale Grundlage der Souveränität zu verändern begonnen hat. Kurz gesagt ist Staatenlosigkeit ein Konzept, das einige der destabilisierendsten Entwicklungen moderner Politik umfasst.2

In seinem weitesten Sinne hat der Begriff diverse politische Implikationen von enormer Sprengkraft, aber es sind die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen internationalen Übereinkommen, die definieren, was Staatenlosigkeit bedeutet, und die die Grundregeln für ein Leben außerhalb staatlicher Grenzen und für das Bestreben um Zugang zu ihnen festlegen. Diese Übereinkommen umreißen begrenzte Ausnahmen von der generellen Annahme, dass Staaten ein grundlegendes Recht besitzen zu bestimmen, wer als Staatsangehöriger zählt, und zu kontrollieren, wer ihre Grenzen überschreitet.3 Staaten legen wiederum die Grundlage der Staatsangehörigkeit auf zwei Arten gesetzlich fest: entweder nach Abstammung oder nach Geburt innerhalb eines bestimmten Territoriums oder einer Jurisdiktion. Zudem machen sie eine Einbürgerung von bestimmten Bedingungen abhängig. Definiert in dem 1954 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen, gilt im engeren Sinne als staatenlos »eine Person, die kein Staat aufgrund seiner Gesetzgebung als Staatsangehörigen betrachtet«, was heutzutage heißt, dass sie nicht die primäre rechtliche Zugehörigkeit besitzt, die eine förmliche Staatsangehörigkeit eines der 195 anerkannten Staaten der Welt definiert. Dagegen ist ein Flüchtling nach der Flüchtlingskonvention von 1951 eine Person, »die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugungen sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will«.4

Bis vor Kurzem wurde Staatenlosigkeit als vergleichsweise marginales Problem behandelt, und erst in den letzten Jahren fand die Thematik bei Juristinnen und Juristen, politischen Theoretikern und Theoretikerinnen sowie humanitären Organisationen größere Beachtung.5 Die Politologin Judith Shklar hielt es in ihrem Buch über amerikanische Staatsbürgerschaft 1991 für notwendig, ihre Leserschaft daran zu erinnern, dass die legale Zugehörigkeit zu einem Staat »nicht trivial« sei und »staatenlos zu sein, eines der schlimmsten politischen Schicksale ist, das jemanden in der modernen Welt ereilen kann«.6 Doch was heute als kleiner Teil der umfassenderen Krise massenhafter Heimatlosigkeit und globaler Migration erscheint, hat eine Geschichte, die zeigt, wie die Ansichten über die legitimen Grenzen politischen Lebens ursprünglich zustande gekommen sind. Obwohl nicht alle Staaten solche Übereinkommen unterzeichnet haben und nicht alle Unterzeichnerländer sich daran halten, haben die Konventionen, die die Bedingungen für internationale Inklusion und Exklusion festsetzen, entscheidend dazu beigetragen, die Welt in ihre politischen Bestandteile zu gliedern.

Zentrales Anliegen dieses Buches ist es daher, die Argumente zu rekonstruieren und zu verdeutlichen, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg letztendlich zu einem stabilen gemeinsamen Verständnis von Staatsbürgerschaft und Nichtstaatsbürgerschaft führten.7 Ich untersuche die Ursprünge des Rechtsrahmens, der die Beziehungen zwischen Staaten und ihren Staatsangehörigen regelt, und die Rolle, die Ideen, Argumente und ideologische Rechtfertigungen bei seiner Schaffung spielten. Es soll gezeigt werden, wie das Problem der Staatenlosigkeit Theorien zu Rechten, Souveränität, Völkerrecht und kosmopolitischer Justiz prägte, Theorien, die entwickelt wurden, als die konzeptionellen und politischen Konturen der modernen zwischenstaatlichen Ordnung vor dem Hintergrund einiger der gewalttätigsten und katastrophalsten Ereignisse der modernen Geschichte erarbeitet wurden.

Historikerinnen und Historiker haben das Aufkommen der Staatenlosigkeit als moderne Rechtskategorie meist als Folge des Triumphs des Nationalismus im 20. Jahrhundert und des Zusammenbruchs fließenderer Formen von politischer Identifikation und Schutz interpretiert, die charakteristisch für expansive Imperien waren. Nach diesen Narrativen beanspruchten Staaten das Recht, im Namen des nationalen Zusammenhalts und häufig zur Verteidigung der Demokratie und der Volkssouveränität ihre Staatsgemeinschaft exklusiver zu definieren, während der Aufstieg des Faschismus und der Gewalt gegen Minderheitengruppen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu beispiellosen Flüchtlingsströmen führte. Die nahezu vierzigjährige Krise massenhafter Vertreibung, Verschleppung, Flucht und politischer Heimatlosigkeit, ausgelöst durch zwei Weltkriege und das Ende von Imperien, gipfelten nach dieser Sicht in der Schaffung des modernen Völkerrechtsrahmens, der diejenigen definiert, die auf die eine oder andere Weise von der Sicherheit der Staatsangehörigkeit ausgeschlossen sind. Diese Geschichtsdarstellungen zeichnen die Entstehung moderner Rechts- und Governance-Systeme tendenziell von den anfänglichen Bemühungen des Völkerbundes, ausgewählten Flüchtlingsgruppen rechtlichen Schutz zu bieten, bis zur Schaffung universellerer Rechtsrahmen durch dessen Nachfolger in der Nachkriegszeit, die Vereinten Nationen, nach. Sie beschreiben den Ausschluss von den Privilegien der Staatsangehörigkeit als die Schattenseite der Demokratie, der Souveränität und der nationalen Selbstbestimmung – Mängel, die internationale Organisationen und das Völkerrecht zu beheben versuchten, indem sie Personen, die nicht den Schutz eines Staates genossen, Rechte zugestanden.8

Dieses Buch erzählt eine andere Geschichte, die stärker auf die Tatsache eingeht, dass die konzeptionelle, rechtliche und politische Architektur, die unsere moderne internationale Ordnung definiert, sich in den letzten Jahren als drängender Gegenstand historischer und theoretischer Untersuchungen herausgestellt hat. Wie Historikerinnen und Historiker gezeigt haben, wichen erst in den...