Renaissancen des Realismus? - Romanistische Beiträge zur Repräsentation sozialer Ungleichheit in Literatur und Film

Renaissancen des Realismus? - Romanistische Beiträge zur Repräsentation sozialer Ungleichheit in Literatur und Film

von: Patrick Eser, Jan-Henrik Witthaus

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2023

ISBN: 9783111022901 , 253 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 89,95 EUR

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Renaissancen des Realismus? - Romanistische Beiträge zur Repräsentation sozialer Ungleichheit in Literatur und Film


 

‹Soziale Ungleichheiten› und ‹Realismus› als Paradigma – literatur- und kulturwissenschaftliche Vorüberlegungen


Patrick Eser
Jan-Henrik Witthaus

1. Einige Soziolog:innen und Historiker:innen, die sich der Untersuchung von sozialer Ungleichheit gewidmet haben, behaupten, dass kaum eine westliche Gesellschaft existiert habe, in der es keine ungleiche Verteilungen von Vermögen, Funktionen und Prestige gab. So heißt es beim britischen Soziologen Walter Garrison Runciman: «All societies are inegalitarian.»1 Der Historiker Walter Scheidel formuliert noch schärfer: «Inequality has been written into the DNA of civilization ever since humans first settled down to farm the land.»2 In einem Parforceritt durch die europäische Geschichte – The Great Leveler (2018) – erklärt Scheidel Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien zu den einzigen auf sozialer Bühne sichtbaren ‹Gleichmachern›, und angesichts der noch andauernden Corona-Krise deutete er zu Beginn der Pandemie Ereignislinien an, die zu einer stärkeren Nivellierung der gegenwärtigen sozialen Ungleichheit führen könnten: «If we’re entering a more long-term depression as a result of Covid-19, I think all kinds of more radical policies will be on the table for the first time in a very long time.»3 Freilich würden Impfungen (wie sie uns nun zur Verfügung stehen) den Krisenschauplatz wesentlich verändern: «But now assume that science fails to do that because the virus is more complicated and can’t be fixed in the short term, then you’ll have a more severe protracted crisis, with greater potential for transformative change.»4 Die bis zum heutigen Tag verfügbaren Erfahrungen deuten jedoch eher darauf hin, dass die Covid-19-Krise die Gräben sozialer Ungleichheit noch vertieft hat, was nicht nur an der medizinisch-wissenschaftlichen Abfederung der unmittelbaren Pandemiefolgen liegen dürfte.5

Die These von der ‹Universalität sozialer Ungleichheit› ist nicht gerade neu – so könnte man meinen – angesichts der geschichtsphilosophisch aufgeladenen Aussagen, mit denen das Kommunistische Manifest (1848) von Karl Marx und Friedrich Engels beginnt und in denen die historischen Zeitläufe als die Abfolge von Klassenkämpfen beschrieben werden: «In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen.»6 Der französische Ökonom Thomas Piketty warnt demgegenüber in Capital et idéologie (2019) vor Argumentationsfiguren, in denen soziale Ungleichheit zur naturgegebenen Kondition jeglicher Gesellschaft erklärt werde. Vielmehr sei jene immer ein sozial konstruiertes und historisch variables Phänomen und müsse im Kontext von Institutionen, Ideen und Ideologien stets aufs Neue bewertet werden:

Autrement dit, le marché et la concurrence, le profit et le salaire, le capital et la dette, les travailleurs qualifiés et non qualifiés, les nationaux et les étrangers, les paradis fiscaux et la compétitivité, n’existent pas en tant que tels. Ce sont des constructions sociales et historiques qui dépendent entièrement du système légal, fiscal, éducatif et politique que l’on choisit de mettre en place et des catégories que l’on se donne.7

Pikettys umfangreiche Untersuchung versteht sich als kritische Stellungnahme, die gegen die weit verbreitete Auffassung zu Felde zieht, dass Ungleichheit für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt unvermeidbar sei oder sogar die Bedingung seiner Möglichkeit. Dabei entschärft er den Ideologiebegriff und wendet sich im gleichen Gestus gegen die mechanistische Geschichtsauffassung gewisser Spielarten des Marxismus, «selon lesquelles l’état des forces économiques et des rapports de production déterminerait presque mécaniquement la ‹superstructure› idéologique d’une société. J’insiste au contraire sur le fait qu’il existe une véritable autonomie de la sphère des idées, c’est-à-dire de la sphère idéologico-politique.»8 So sehr man einerseits nachfragen möchte, was bei Piketty genau unter einer ‹autonomen (!) Sphäre der Ideen› verstanden werden soll, so sehr ist andererseits sein Vorstoß aus der Sicht kulturwissenschaftlicher Forschungsansätze zu begrüßen – verdeutlicht er doch, dass Ungleichheiten nicht allein auf ökonomisch-materiellen Grundlagen zementiert werden, sondern umfassender auf den Ebenen gesellschaftlicher Einteilungen, struktureller Gewalt und symbolischer Grenzziehungen betrachtet werden sollten, wobei Erzählungen, Kommunikationen, Ausdrucksmuster und Gedächtnisformen eine besondere Bedeutung zukommt.

Pikettys Hinweis auf die Bedeutung der ideologisch-politischen Sphäre in der Konstitution sozialer Ungleichheiten kann bedeutende Hinweise für die kultur- und literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit deren fiktional-narrativen Explorationen enthalten. Dieser Hinweis könnte mithin gewinnbringend in den Kontext sozialtheoretischer Topologien und nicht-reduktionistischer Ideologietheorien gestellt werden, wie sie im Anschluss an die vermeintlich in die Jahre gekommene, aber immer wieder als stimulierend rezipierte Ideologietheorie Louis Althussers möglich erscheinen,9 die relevante Einsichten über die Materialität des Sozialen, die Ritualität des Bewusstseins, die ‹ideologische Anrufung› und die Funktionsweise des Subjekts mit psychoanalytischen Theoremen verbindet.10 Ausgehend von diesem Theorietypus ist weder eine Auseinandersetzung mit mechanistischen Basis-Überbau-Ableitungen notwendig, noch ließe dieser sich dazu verleiten – und würde es gar als naiv erachten –, eine ‹Autonomie der Sphäre der Ideen› (vgl. das Zitat oben) zu behaupten. Darüber hinaus kann ein Abgleich der Register der alltagsweltlichen Rede über die Welt, der gesellschaftlichen Imaginationen und künstlerischen Fiktionen des Sozialen nachzeichnen, wie Kognition, historisch-kulturelle Wissensformationen und Prozesse der sozialen (Un-)Sichtbarkeit aufeinander verweisen (und im klassischen wie kritischen Sinne ideologisch wirken, wenn sie soziale Ungleichheitsverhältnisse als natürlich erscheinen lassen). An diesem Punkt wäre zu überlegen, ob nicht eine Reformulierung ideologiekritischer Aspekte und die konzeptuelle Logik kritischer Ideologiebegriffe eine hilfreiche analytische Orientierung für literatur- und kulturwissenschaftliche Forschungsanstrengungen anbieten könnten.11

So skizzierte Begrifflichkeiten der Ideologie könnten zusätzlich mit Michel Foucault kontrastiert oder präzisiert werden. Analysiert würden dann «nicht die Ideen, nicht die Gesellschaften und nicht ihre ‹Ideologien›[,] sondern die Problematisierungen, in denen das Sein sich gibt als eines, das gedacht werden kann und muß, sowie die Praktiken, von denen aus sie sich bilden.»12 Foucault distanziert sich hier nicht nur von der Ideengeschichte, sondern als Althusser-Schüler auch vom klassischen Marxismus und weist, wie gewisse Lesarten Foucaults das nahelegen, einen Weg in das ‹postideologische Zeitalter›. Einerseits könnte also eine kulturhistorische Ausrichtung von Studien zur Untersuchung sozialer Ungleichheit den Schwerpunkt auf die Frage legen, wann diese als wahrnehmbare Struktur im alltäglichen Dasein von Akteuer:innen auftaucht und welchem historischen Wandel sie unterworfen ist, mithin zu einem Problem oder ‹problematisch› wird – in dem Sinne, dass das Sprechen und Denken sie nur schwer übergehen kann bzw. von ihr auszugehen hat. Andererseits wird hier der Ideologiebegriff ein wenig vorschnell verabschiedet, denn nicht nur das Problematischsein, ebenso die Verdunkelung von Ungleichheit verdient es, thematisiert zu werden, etwa in Studien zu den Strategien, soziale Schieflagen durch variable, kontingente kulturelle Repräsentationsmechanismen zu verschleiern und dafür zu sorgen, dass sie in der Sphäre des Nichtthematisierten verharren, quasi ‹naturalisiert› werden – was wiederum an Roland Barthes Mythenkritik anschließen würde.13 Fachwissenschaftliche Analysen fiktionaler, literarischer wie audiovisueller Erzählungen wären auf diese Weise in ein Milieuwissen einzubetten, das nicht nur materielle Bedingungen, sondern ebenso die symbolischen Mechanismen und Repräsentationsformen zur Kenntnis nimmt, die auf soziale Kontexte, gesellschaftliche Konstellationen und Machtstrukturen bezogen sind. Auch hier ergeben sich Brücken zu Foucault.14

2. Eine ‹Geschichte der Problematisierung und Verschleierung von Ungleichheiten› lässt sich bei leichter Verschiebung des Vokabulars als eine zyklisch immer wieder auftretende Konfrontation mit der ‹Realität› beschreiben, die eine Revision bisheriger Realitätsmodelle anstößt oder bewirkt – sowohl in der fachwissenschaftlichen Auslotung des Sozialen als auch in künstlerischen Bereichen. ‹Realismus› muss also nicht unbedingt ontologisch fundiert sein, er kann zudem geschichtlich-gesellschaftliches Sein in seinem ‹Realitätsgehalt› erfahrbar machen. Krisen und Revisionen bringen an den Tag, was bislang systematisch außerhalb...