Büchners Dinge

Büchners Dinge

von: Roland Borgards, Martina Wernli, Esther Köhring

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2023

ISBN: 9783110796391 , 217 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 79,95 EUR

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Büchners Dinge


 

Abhandlungen


Vorhang auf!


Dinge, Theater und Politik – zu einer Anekdote in Büchners Briefen

Alexander Kling
Bonn

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„Den heutigen Abend“, so der Zuschauer Fischer, „sollte man doch wirklich im Theater-Kalender beschreiben.“1 Ohne Frage müsste man sich dieser Aussage anschließen, würde sie nicht von einer Figur getätigt, die selbst einem Text entstammt, der seinerseits den Berichten im Theaterkalender einiges verdankt – Fischer ist nämlich Zuschauer in Ludwig Tiecks romantischer Komödie Der gestiefelte Kater (1797).2 Für die folgende Analyse, die sich Büchners Brief vom 15. März 1836 an die Familie und den Dingen der hier mitgeteilten Anekdote widmen wird, gibt es zwei Gründe, Tiecks Der gestiefelte Kater als Ausgangspunkt heranzuziehen. Erstens ist die Aussage Fischers Reaktion auf eines der vielen Missgeschicke des verunglückten Theaterabends. Zu Beginn des dritten Akts wurde der Vorhang zu früh aufgezogen und so können die (fiktiven) Zuschauer einem Gespräch zwischen dem Dichter und dem Maschinisten beiwohnen, in dem Ersterer darum bittet, bei weiteren Aufführungsfehlern zur Ablenkung des Publikums „alle Maschinen spielen“ zu lassen.3 Der gestiefelte Kater inszeniert damit den Theaterraum mit all seinen Materialitäten als Medium, das sich für verschiedene Formgebungen nutzen lässt – dementsprechend wird am Ende des Stücks auch dem „leer[en]“ Theater applaudiert, auf dem „nur die Dekorationen“ zu sehen sind.4 Nachdem Dichter und Maschinist zu Beginn des dritten Akts bemerkt haben, dass der Vorhang bereits geöffnet ist, fliehen sie von der Bühne. Anschließend erklärt der Hanswurst das Vorgefallene folgendermaßen:

Der Vorhang war zu früh aufgezogen. Es war eine Privatunterhaltung, die gar nicht auf dem Theater vorgefallen wäre, wenn es zwischen den Kulissen nur etwas mehr Raum hätte. Sind sie also illudiert gewesen, so ist es wahrlich um so schlimmer, und es hilft nichts, Sie müssen dann so gütig sein, diese Täuschung aus sich wieder auszurotten; denn von jetzt an, verstehn sie mich, von dem Augenblicke, daß ich werde abgegangen sein, nimmt der Akt erst seinen Anfang.5

Ein Maschinist, der sich um etwas bitten lässt, ein Vorhang, der zu früh geöffnet wurde, das Öffentlichwerden eines privaten Vorgangs und eine fehlerhafte Illudierung, die möglichst ausgerottet werden soll – all diese Aspekte spielen auch, in veränderter Form, in Büchners Briefanekdote eine zentrale Rolle.

Die unmittelbar auf das Missgeschick des zu früh geöffneten Vorhangs folgende Replik des Zuschauers Fischer, dass die Aufführung nicht irgendwo, sondern speziell im „Theaterkalender“ beschrieben werden soll, ist der zweite Grund, die Analyse von Büchners Anekdote mit Tiecks Der gestiefelte Kater zu beginnen. Der Theaterkalender ist als Periodikum zwischen 1775 und 1799 erschienen. Eine regelmäßig wiederkehrende Rubrik ist darin die Sammlung von Anekdoten, in denen von allen möglichen Sonderbarkeiten des Theaterlebens berichtet wird. Dazu gehören missglückte Aufführungen, bei denen es zu einer (Zer-)Störung der theatralen Illusion gekommen ist, sei es ausgehend vom menschlichen Personal, das heißt den Schauspielenden, Souffleuren, Maschinisten sowie dem Publikum, oder von den materiellen Dingen, etwa den Kulissen, Dekorationen und Requisiten. Auch im unmittelbaren Umfeld Büchners erscheinen noch verschiedene Sammlungen solcher Anekdoten.

Im Folgenden wird die Anekdote in Büchners Brief vom 15. März 1836 im Zentrum der Analyse stehen. Zunächst soll allgemein die dingtheoretische Ausrichtung der vorgenommenen Argumentation skizziert werden. Anschließend wird Büchners Anekdote mitsamt ihren Dingen vorgestellt und historisch eingeordnet. Sodann werden zwei Gattungstraditionen betrachtet: die Theateranekdote und die politische Anekdote. Abschließend ist auf Büchners Briefanekdote zurückzukommen, wobei die politische Dimension der in der Anekdote erzählten Theaterdinge durch exemplarische Werkbezüge vertieft werden soll.

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Eine dingtheoretische Ausrichtung der folgenden Analyse soll sich aus zwei Fokussetzungen ergeben: zum einen auf den Vorhang, zum anderen auf die Gattung der Anekdote. Vorhänge sind Dinge, die zugleich über den ontischen Status anderer Dinge entscheiden. „Der Vorhang“, so Gabriele Brandstetter, „steht seit jeher im Dienst der Überraschung, der Verzauberung, der Illusion.“6 Die Wirkmacht des Vorhangs greift auf die Dinge über, die er zu sehen gibt oder auch verbirgt. Seine Handhabung bewegt sich entlang der Pole eines perfekten Timings einerseits, Fehlhandlungen und technischer Störungen andererseits. Indem er sowohl zu einer Verzauberung als auch zu einer Entzauberung beitragen kann, ist er als wirkmächtiges, aber potentiell widerständiges Ding von besonderem Interesse für dingtheoretische Fragestellungen.

Dingtheorien stellen häufig die Widerständigkeit und Eigenmacht der Dinge in den Vordergrund.7 So produktiv diese Fokussierung für die Epistemologie einer dinglichen agency aber auch sein mag, ergibt sich daraus für die dingtheoretische Analyse literarischer Texte zugleich ein gewichtiges Problem. Literarische Texte können die Widerständigkeit der Dinge inhaltlich in Szene setzen, dennoch hat man es nicht mit einer dinglichen Eigenmacht zu tun, sondern mit Werkkompositionen, die noch jeden Un-Sinn der Zufälligkeit in den Sinn der Darstellung integrieren.8 Anders sieht dies im Fall von Theateraufführungen aus. Als Umsetzungen von Inszenierungskonzepten sind sie in weniger starker Form durativ, stattdessen eröffnen sie Spielräume für ungeplante Ereignisse.9 Wenn in einem Roman davon erzählt wird, dass während einer Theateraufführung eine Kulisse umstürzt, ist das etwas anderes, als wenn dies während einer Aufführung tatsächlich geschieht – zumindest wenn dies nicht Teil des Inszenierungskonzepts ist. Das eine Mal ist die dingliche Widerständigkeit Teil des Kunstwerks, das andere Mal hebt sie es auf.

Mit der Unterscheidung von literarischem Text und Theater rückt nun schließlich die Gattung der Anekdote und deren Bedeutung für dingtheoretische Fragestellungen in den Blick. Für Theateranekdoten gilt, dass sie zwischen Theater und literarischem Text, transitorischer Aufführung und durativem Werk positioniert sind. Theateranekdoten bereiten die flüchtigen Theaterereignisse, die häufig mit einer Widerständigkeit der Dinge verbunden sind, textuell auf.10 Dadurch bekommen diese Ereignisse einen durativen Charakter, der neben der Speicherung auch ihre Zirkulation ermöglicht.11

Eine Poetik der Dinge ist ohne eine Poetik der Gattungen nicht zu haben. Dabei ist aber auch Vorsicht geboten: Die Gattung der Anekdote suggeriert zwar eine protokollartige Wiedergabe der dinglichen Widerständigkeit, dennoch basiert die Vertextung der Dinge auch in Anekdoten auf einer literarischen Formgebung – Anekdoten sind verdichtete und komponierte Texte.12 In Hinblick auf ihre Darstellung der Dinge ist damit grundsätzlich nach dem Wie der textuellen Inszenierung zu fragen – das gilt auch für Büchners Briefanekdote sowie die Gattungstraditionen, die mit dieser verbunden sind.

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Büchners Brief vom 15. März 1836 besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wird von einer willkürlich verfahrenden Justiz berichtet, die nach Belieben straft oder nicht straft. Im dritten Teil thematisiert Büchner die Flucht ins Exil und die dort beobachtbare Anpassung, die sich u. a. in den „vielen und guten Examina“ (DKV 2, S. 431) niederschlägt. Pointiert formuliert, entwerfen die beiden Teile des Briefs somit den Übergang vom umkämpften Vormärz zum ruhiggestellten Biedermeier. Verknüpft sind beide Teile über den politischen Ausnahmezustand, in dem Gesetze Teil der Gewalt sind und der zudem eine konspirative Kommunikation hervorbringt, die durch den Austausch von Berichten und Erzählungen den Ausnahmezustand dokumentiert und veranschaulicht.13 Den Mittelteil des Briefs bildet die Anekdote. Mit dieser wechselt der Brief von einem telling zu einem showing und nutzt so für die Darstellung des Ausnahmezustands die Evidenzkraft des Anekdotischen:14

Ich will Euch […] sogleich eine sonderbare Geschichte erzählen, die Herr J[aeglé] in den englischen Blättern gelesen, und die, wie dazu bemerkt, in den deutschen Blättern nicht mitgeteilt werden durfte. Der Direktor des Theaters zu [Braunschweig] ist der bekannte Componist Methfessel. Er hat eine hübsche Frau, die dem Herzog gefällt, und ein Paar Augen, die er gern zudrückt, und ein Paar Hände, die er gern aufmacht. Der Herzog hat die sonderbare Manie, Madame...