Die Kunst der Klassischen Moderne

Die Kunst der Klassischen Moderne

von: Uwe M. Schneede

Verlag C.H.Beck, 2023

ISBN: 9783406751004 , 129 Seiten

3. Auflage

Format: ePUB

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Preis: 7,49 EUR

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Mehr zum Inhalt

Die Kunst der Klassischen Moderne


 

Die Epoche der Avantgarden


1900–1920

Jahrhundertwenden sind kunsthistorisch ohne Belang. Doch können sie zum Inbegriff für einen gravierenden Wandel werden, wie etwa die Zeit «um 1800». Jedenfalls verfügten die jungen europäischen Künstler in den beiden ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts über ein grundsätzlich anderes Selbstverständnis und Sozialverhalten als die Neuerer am Ende des vorangegangenen Jahrhunderts. Jetzt agierten sie nicht mehr abseits des Hauptstroms als Einzelgänger, vielmehr taten sich Gleichgesinnte, um sich behaupten zu können, zusammen, entwickelten gemeinsame Programme und Strategien, benutzten für die Außenwirkung selbstbewusst die verfügbaren Informationsmittel – vom althergebrachten Holzschnitt der Expressionisten bis zur modernen Drucktechnik der Futuristen –, nahmen das Ausstellungsgeschäft selbst in die Hand, fanden Förderer und Sammler und konnten Kritiker für sich einnehmen. Man erfand den modernen Kunstbetrieb.

Wenngleich der in Deutschland bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs mit eminentem öffentlichem Echo ausgetragene «Kampf um die moderne Kunst» sich noch vornehmlich um die französischen Impressionisten und die großen Neuerer drehte, war er doch auch für die Jüngeren und die Jungen bei der Durchsetzung ihrer Kunst von Nutzen. Jedenfalls öffneten sich den aktuellen Entwicklungen nun wirksame Organe: Kunstzeitschriften, Kunsthandlungen, erste Museen.

Die großen Gestalten der deutschen Kunstgeschichte waren in diesen Jahren des Übergangs Max Liebermann und Lovis Corinth, aus der folgenden Generation Paula Modersohn-Becker und – für die Skulptur – Wilhelm Lehmbruck. Wo sich Liebermann mit impressionistisch gelockerten Mitteln der Realität, auch ihrer sozialen Seite, näherte und Corinth mit malerischer Vehemenz auftrumpfte, schufen Paula Modersohn-Becker und Wilhelm Lehmbruck verhaltene Bilder von Menschen mit stillem Sentiment. Lehmbrucks Figuren, die in der Nachfolge Auguste Rodins definitiv mit dem Aufdringlichen und dem Pathos der Skulptur im 19. Jahrhundert aufräumten, setzten die hohen Maßstäbe für alles weitere bildhauerische Arbeiten im 20. Jahrhundert. Paula Modersohn-Beckers Werke entstanden zwischen den Zeiten, also noch vor der Phase der Neuerer. In Paris holte sie sich Anregungen aus alter und neuester Kunst wie aus fremden Kulturen für ihre formal eigensinnigen Werke mit Motiven aus Worpswede. Dieses war für sie, was Tahiti für Gauguin: das fremde «Wunderland». Zumal in ihrer letzten Zeit arbeitete sie an Bildern hieratisch verharrender Figuren mit rituellen Gesten und rätselhaften Attributen, mit denen noch einmal – vor dem Einsetzen der Abstraktion und damit des Inhaltsentzugs um 1910 – eine Welt symbolisch verdichtet wurde.

Die radikalen Bewegungen, die dann in den beiden ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts jeweils für ein paar Jahre in Deutschland oder Frankreich, Italien, Österreich oder Russland existierten und die jede für sich die Kunstpraxis veränderten und die Kunstbegriffe durcheinanderwirbelten, nennen wir die «Avantgarden». Der aus dem Militärischen stammende Begriff meint – natürlich metaphorisch – das offensive Betreten, wenn nicht Erobern von künstlerischem Neuland.

Was aber ist den Avantgarden gemeinsam? Im Grunde nichts weiter als die unbedingte Radikalität auf ihrem jeweiligen Feld. Denn ihre Vorhaben waren denkbar widersprüchlich: symbolische Abstrahierung bei Kandinsky, Inhaltsentzug bei Malewitsch, dagegen ikonographische Aktualisierung bei den Expressionisten und neue Inhalte bei den Futuristen; Stileinheit bei den Kubisten und Stilvielfalt bei den Russen; Traditionsbruch bei den Futuristen und Traditionsliebe beim Blauen Reiter; Primitivismus bei den Brücke-Expressionisten und einem Teil der Russen, dagegen Modernitätskult bei den Futuristen; der Verlass allein auf die Malerei bei den Kubisten und auf der anderen Seite, bei den Futuristen, die programmatische Ausweitung auf alle nur denkbaren kulturellen Sparten; die Aktivierung alter Techniken (Holzschnitt) durch die Expressionisten, hingegen die Erfindung neuer, weiterführender Bildpraktiken bei den Kubisten (papiers collés) und den Futuristen, schließlich gar der Ersatz der Malerei durch eine bildsezierende Technik, die dadaistische Collage. Nicht, wie oft behauptet, die eingleisige Abstraktion, das Abbrechen aller Brücken und ein vorbehaltloser Fortschrittsglaube, sondern solch erfinderischer Reichtum der Widersprüche macht die Moderne aus.

Frankreich. Der Kubismus


Der Kubismus entstand in seltenem künstlerischen Einklang. Pablo Picasso und Georges Braque taten im Sommer 1908, angeregt von Cézanne, die ersten Schritte unabhängig voneinander und die nächsten in einer engen Verbindung, in der eine die individuellen Handschriften zurückstellende, gemeinsame Bildsprache entstand.

In Picassos Atelier war unmittelbar zuvor ein Jahrhundertwerk geschaffen worden, die Demoiselles d’Avignon (Abb. 18). Durch ungewöhnlich viele Skizzen, Notizen und Studien war das Gemälde vorbereitet und mehrfach umgearbeitet worden. Mit ungeahnter Gewaltsamkeit brach der Primitivismus in das Bild ein, zunächst vermittelt durch frühe iberische Skulpturen, die Picasso beeindruckten – davon zeugen noch die beiden mittleren Figuren –, dann durch afrikanische Masken, deren Anblick im Pariser ethnographischen Museum für Picasso einer umwälzenden Entdeckung gleichkam. Die Frauenfiguren in ihren kubischen – noch nicht kubistischen – Formen, ursprünglich Prostituierte, sind zu Gestalten archaischen Schreckens geworden.

An den «primitiven» Köpfen, den iberischen wie den afrikanischen, faszinierte Picasso die Ausdrucksstärke, die Kraft der Formen und die magische Qualität, mehr noch: «Die Negerstücke waren gegen alles, gegen unbekannte, bedrohliche Geister. Ich schaute immer noch die Fetische an, und auf einmal begriff ich: Auch ich war gegen alles.» Mit Hilfe des «Primitiven» konnte Picasso mit allen Normen der Kunst, auch seinen eigenen, abrupt und gewaltsam brechen. Die Demoiselles d’Avignon sind das einzigartige Denkmal dieses Bruchs, der dem Medium Bild völlig neue Möglichkeiten eröffnete.

Der Neuansatz Picassos und Braques war der Gewinnung noch unbekannten bildnerischen Terrains gewidmet. Dazu wurde jene Bildsprache aus facettierten Formen, mehransichtigen Gegenständen und um der Formwirkung willen zurückgenommenen Farben hervorgebracht, die bald mit dem Begriff «Kubismus» belegt wurde. 1907 hatte die große Gedenkausstellung für Cézanne in Paris stattgefunden. Was Picasso und Braque an dessen Werk vor allem anzog, waren der Aufbau des Bildes aus übergängigen Farbflächen, die Perspektivwechsel und der Verzicht auf die Lokalfarben. Anders als Cézanne waren sie indes nicht dem Sehvorgang auf der Spur, vielmehr suchten sie ein Verfahren der Wiedergabe von Sichtbarem ohne Abbildlichkeit und Illusionismus (Abb. 4).

4   Pablo Picasso, Bildnis Ambroise Vollard, 1910, Staatliches Puschkin-Museum, Moskau

Den durch die strenge Formdisziplin bewirkten Entzug der Lebensproblematik machte man ab 1912 durch eine Variante des kubistischen Prinzips wett: Eingeklebte Realitätspartikel – Zeitungsausschnitte, ein Stück Tapete oder Wachstuch, Sprachfetzen – koppelten das Bild erneut zurück an die Wirklichkeit und seine Zeit. Damit wurde die Stilharmonie aufgelöst, man landete wieder im Hier und Heute der Brüche und Fragmentarisierungen, von denen schon die Demoiselles d’Avignon gehandelt hatten.

Deutschland. Brücke und Blauer Reiter


In Deutschland geschah der erste Zusammenschluss von Künstlern nach der Jahrhundertwende in Dresden. Vier gut 20-jährige Zöglinge der Architektur – zwei diplomiert, die beiden anderen noch Studenten – gründeten 1905 die Künstlergruppe Brücke in der Absicht, sich «Arm- und Lebensfreiheit» in alt gewordener – noch kaiserlich geprägter, vordemokratischer – Gesellschaft zu verschaffen, indem sie «unmittelbar und unverfälscht» auszudrücken begehrten, was sie bewegte: Fritz Bleyl, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff. Dazu kamen wenig später Max Pechstein und vorübergehend Emil Nolde. Im Leben wollte man sich jugendlich über Sitte und Anstand, in der Kunst über Norm und Handwerk hinwegsetzen.

Anfangs führten sie sich in einem Gemeinschaftsatelier gegenseitig in die Kunst ein. Als Autodidakten waren sie mehr als andere auf...