Politische Einmischung in der Sozialen Arbeit - Analyse- und Handlungsansätze

Politische Einmischung in der Sozialen Arbeit - Analyse- und Handlungsansätze

von: Simone Leiber, Sigrid Leitner, Stefan Schäfer, Rudolf Bieker

Kohlhammer Verlag, 2023

ISBN: 9783170408142 , 231 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 31,99 EUR

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Politische Einmischung in der Sozialen Arbeit - Analyse- und Handlungsansätze


 

1 Einleitung: Politische Einmischung in der Sozialen Arbeit


Simone Leiber, Sigrid Leitner & Stefan Schäfer

»In der Debatte um ein zweites Entlastungspaket, das insbesondere die Folgen steigender Energiepreise abfedern soll, warnt der Paritätische Wohlfahrtsverband vor ›Hilfen mit der Gießkanne‹ und fordert substanzielle und zielgenaue Hilfen für einkommensarme Haushalte, die überproportional von Teuerungen betroffen sind. Weder der angekündigte Kindersofortzuschlag von 20 Euro noch der geplante einmalige Heizkostenzuschuss im Wohngeld [...] reichen in Höhe und Form nach Ansicht des Verbandes aus, um armen Menschen wirksam zu helfen. [...] Ulrich Schneider weist darauf hin, dass der Paritätische schon lange auf die Notwendigkeit der klimapolitischen Wende hinweist, diese aber nur funktionieren kann, wenn sie sozial abgefedert wird und nicht auf Kosten der Ärmsten geht« (DPWV 2022).

Gemeinsam mit anderen Wohlfahrts- und Sozialverbänden sowie zivilgesellschaftlichen Initiativen (z. B. Tacheles e. V. 2021) setzt der Paritätische Wohlfahrtsverband sich politisch dafür ein, dass die klimapolitische Wende und der Anstieg von Energiepreisen nicht auf Kosten armer Menschen geschieht, und er fordert Anpassungen in den Grundsicherungsleistungen. Damit mischt sich Soziale Arbeit – hier am Beispiel einer Trägerorganisation – in die Debatte um strukturelle Ursachen sozialer Notlagen ein. Soziale Arbeit wie auch Sozialpolitik haben zunächst gemeinsam, dass es im Kern um die Bewältigung sozialer Problemlagen geht. Sozialpolitische Maßnahmen, so bereits Kaufmann (1973, S. 98), beseitigen dabei typische soziale Risiken und Notlagen, die durch generalisierende Leistungen behoben werden können. Soziale Arbeit bearbeitet im Idealfall ergänzend dazu komplexe Notlagen durch individualisierende Leistungen unter Berücksichtigung der besonderen Gegebenheiten des Einzelfalls. Aus diesem Grund sind Soziale Arbeit und Sozialpolitik eng miteinander verwoben (Leiber/Leitner 2017) und beeinflussen sich wechselseitig. Wenn die generalisierenden Leistungen des sozialen Sicherungssystems – wie im Eingangsbeispiel die Leistungen der Grundsicherung, die mit den ansteigenden Energiepreisen nicht schritthalten – (neue) soziale Risiken – wie etwa Energie- und Einkommensarmut – nicht hinreichend adressieren, wirkt sich dies auch auf die Einzelfallhilfe sowie die Lebensbewältigung (Böhnisch 2019) von Adressat:innen Sozialer Arbeit aus. Daher sehen viele Wissenschaftler:innen wie auch Fachpraktiker:innen in der Sozialen Arbeit das »Aufzeigen der gesellschaftlichen Bedingtheit individueller Notlagen« (Kaufmann 1973, S. 87) als eine wichtige Funktion Sozialer Arbeit an.

1.1 Einmischung als Konzept und Prinzip


Das Konzept der »Einmischung« wurde in der Sozialen Arbeit bereits in den 1980er Jahren von Ingrid Mielenz (1981; 1985) geprägt. Bezogen auf das Feld der Jugendhilfe wurde damals angesichts steigender Berufsnot von Jugendlichen in Großstädten ein umfassender, auch gesellschaftspolitischer Handlungs- und Interventionsbedarf in der beruflichen Bildung sowie der kommunalen Stadtteilarbeit konstatiert. Der Begriff hat in der Folge auch in einen breiteren Diskurs Eingang gefunden, in dem »Einmischung als Prinzip« (Mielenz 1997) in der Sozialer Arbeit etabliert werden sollte. Die Arbeiten von Mielenz stehen wie viele andere im Fachdiskurs der Wissenschaft Sozialer Arbeit für eine Position, die der Sozialen Arbeit eine zentrale politische Funktion zuspricht. Auch wenn das Verhältnis von Sozialer Arbeit und (Sozial-)‌Politik als umstritten und »ambivalent« (Kaufmann 1979; Olk 2008) gilt, so erkennen heute doch viele Fachvertreter:innen die enge Verwobenheit von Sozialer Arbeit und Politik an, die durch mehr als eine Wirkungsrichtung gekennzeichnet ist. (Wohlfahrts-)‌Staatlicher Leitbild- und Politikwandel wirkt dabei auf die Erbringungsverhältnisse und -settings Sozialer Arbeit sowie auf die Lebenslagen von Klient:innen ein. Akteur:innen und Organisationen Sozialer Arbeit sind jedoch auch aktiver Teil und gestaltende Kraft (sozial-)‌politischer Diskurse und Prozesse mit dem Anspruch des Empowerments und einer advokatorischen Interessenvertretung sozial benachteiligter Menschen. Soziale Arbeit ist dabei auf unterschiedlichen politischen Ebenen – von kommunal bis international – sowie in unterschiedlichsten Akteur:innenkonstellationen – von den Studierenden, über individuelle Fachkräfte bis hin zur Berufspolitik oder organisierten Interessen wie Wohlfahrts- und Sozialverbänden sowie Nichtregierungsorganisationen – in Politik eingebunden (▸ Kap. 3). Dies kommt auch in der internationalen Definition Sozialer Arbeit zum Ausdruck, die u. a. auf die Förderung gesellschaftlichen Wandels, sozialen Zusammenhalts und der Autonomie sowie Selbstbestimmung von Menschen durch Soziale Arbeit verweist (▸ Kap. 2).

Bis heute sind Debatten um die Konzeption, Legitimation sowie – in jüngerer Zeit zunehmend auch empirische Befunde – zu politischem Handeln in der Sozialen Arbeit von einer Vielfalt an begrifflich-analytischen Zugängen geprägt, die sich teils ergänzen und teils in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehen. Wir greifen für dieses Buch bewusst den Begriff »Einmischung« (▸ Infobox 1A) von Mielenz auf, weil er ein politisches Selbstverständnis und eine wichtige politische Funktion Sozialer Arbeit zum Ausdruck bringt, ohne die Soziale Arbeit mit Ansprüchen zu überfrachten.

Infobox 1A: Einmischung

»Einmischung« bedeutet im hier verwendeten Sinn, dass Soziale Arbeit auf vielfältige Weise aktiver Teil politischer Diskurse und Prozesse ist, ohne dass dies zwingend mit einer Pflicht (zur Debatte um ein politisches Mandat Sozialer Arbeit vgl. Merten 2001 sowie ▸ Kap. 2) oder mit tatsächlichem politischem Einfluss gleichgesetzt werden muss. Das Konzept ist offen für unterschiedliche Legitimationen, Handlungsstrategien und Methoden und impliziert eine enge Verwobenheit individueller wie auch überindividueller Ansatzpunkte. Benz und Rieger (2015, S. 22) gehen davon aus: »Nur wo sie [Soziale Arbeit] [...] nach überindividuell verbindlichen Regeln fragt [...], handelt sie dann politisch«.

Das Verständnis politischer Einmischung im Rahmen dieses Lehrbuchs setzt voraus, dass Einzelfallhilfe und politische Strukturveränderung aufeinander aufbauen und miteinander in Verbindung stehen. Einmischung in der Sozialen Arbeit kann zunächst bedeuten, in der Arbeit mit Klient:innen fallvergleichend und -übergreifend auf politische Probleme an der Basis aufmerksam zu werden. Dabei kann Soziale Arbeit zunächst nach Lösungen suchen, um die Betroffenen beim Zugang zu ihren Rechten oder durch die Nutzung von Ermessens- und Handlungsspielräumen in der Durchsetzung ihrer Interessen zu unterstützen. Gleichwohl stellt es eine wichtige Aufgabe Sozialer Arbeit dar, grundlegende strukturelle Probleme der alltäglichen Arbeit auch an die Politik zurück zu spiegeln. Bereits Alice Salomon (1929) – eine wichtige historische Wegbereiterin der Sozialen Arbeit in Deutschland – sah die Politik als zu weit weg von den Alltags- und Lebenswelten sozial benachteiligter Menschen an. Daher schrieb sie der Sozialen Arbeit eine bedeutsame Doppelfunktion der Verhaltens- wie auch der politischen Verhältnisänderung zu (▸ Kap. 2; zu internationalen Perspektiven auf die Rolle von Pionier:innen der Sozialen Arbeit und ihr Verständnis einer politischen Funktion Sozialen Arbeit vgl. Branco 2019).

Soziale Arbeit steht grundsätzlich und in vielfältiger Weise mit Politik in Bezug (Feldmann 2019). In der internationalen Forschung werden unterschiedliche Pfade politischen Handels unterschieden (Weiss-Gal 2017), die sowohl professionelle als auch zivilgesellschaftliche Aktivitäten umfassen. Auch wenn in der Praxis die Trennlinien zwischen professionellem (Sozialarbeiter:innen als Fachkräfte oder Berufstätige in einem Verband/einer Organisation) und zivilgesellschaftlichem politischen Handeln (Sozialarbeiter:innen als Bürger:innen und ehrenamtlich Tätige) nicht immer einfach zu ziehen sind und diese beiden Sphären sich vermutlich wechselseitig verstärken, liegt der Fokus dieses Buches auf dem erstgenannten. In Anknüpfung an das internationale Konzept policy practice (einführend dazu Burzlaff 2020; vgl. auch ▸ Kap. 3) interessieren in diesem Buch politische

»Aktivitäten von Sozialarbeiter:innen, die als integraler Bestandteil ihrer professionellen Aktivitäten in unterschiedlichen Feldern und durch unterschiedliche Handlungstypen stattfinden, die sich auf die Formulierung und Implementation neuer Politiken sowie auf Änderungsvorschläge zu existierenden Politiken beziehen. Diese Aktivitäten zielen darauf ab, Politiken auf der organisationalen, lokalen, nationalen und internationalen Ebene weiterzuentwickeln und stehen im Einklang mit den Werten Sozialer Arbeit« (Gal/Weiss-Gal 2015, S. 1084 – 1085; Hervorhebung d. Verf., eigene Übersetzung).

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