Konzepte - Verfahren - Methoden - Sonderpädagogischer Schwerpunkt Geistige Entwicklung

Konzepte - Verfahren - Methoden - Sonderpädagogischer Schwerpunkt Geistige Entwicklung

von: Hans-Jürgen Pitsch, Ingeborg Thümmel, Holger Schäfer, Lars Mohr

Kohlhammer Verlag, 2023

ISBN: 9783170404069 , 255 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 31,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Konzepte - Verfahren - Methoden - Sonderpädagogischer Schwerpunkt Geistige Entwicklung


 

1


Problemaufriss


Einführend beginnt das erste Kapitel mit den Begriffsbestimmungen der Schlüsselbegriffe, die für die Planung und Ausgestaltung von Bildungsprozessen im Allgemeinen, die didaktisch-methodischen Entscheidungsprozesse im Besonderen von unhintergehbarer Bedeutung sind. Der Bedeutung des Begriffes angemessen, rückt der Begriff der Bildung an erste Stelle.

1.1       Bildung


Das englische education umfasst als Einheit etwas, das in Deutschland begrifflich getrennt wird: Erziehung und Bildung. Erziehung sei, so die deutsche Lesart, zuvörderst von den Familien zu leisten, Bildung von der Schule und von außerschulischen Möglichkeiten. Bildung wollen wir in Abhebung zum klassischen Verständnis verstehen als die Gesamtheit aller Handlungskompetenzen, die erforderlich sind, um »die Chancen und Risiken einer individualisierten Lebensführung zu bewältigen« (Rauschenbach 2005, 3). Hat Schule aber solche Bildung zu vermitteln, stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise Konzepte, Verfahren, Methoden zur Erfüllung dieses Auftrags beitragen.

Individualisierte Lebensführung ist Teil der individuellen Biografie, und damit »gerät die ungleich größere Palette von Bildungsanlässen und -gelegenheiten ins Blickfeld« (Rauschenbach 2005, 6) als »nur« die Schule. So ausgeweitet ist Bildung nicht nur einseitig zu zentrieren auf Ausbildung und Arbeit, sondern umfassend auf »Handlungsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zur selbständigen Lebensführung [wie auf eine] erfolgreiche Identitätsbalance« (ebd.). Dies zu erwerben erfordert »Eigentätigkeit, Lernen und gemeinsames Handeln mit anderen […], kulturelle Bildung, soziales Lernen, emotionale Entwicklung und politische Bildung sowie, nicht zuletzt, [den] Erwerb von kulturellen, instrumentellen, sozialen und personalen Kompetenzen« (ebd.).

In dieser Breite lässt sich Bildung verstehen »als Aneignung der die Menschen gemeinsam angehenden Frage- und Problemstellungen ihrer geschichtlich gewordenen Gegenwart und der sich abzeichnenden Zukunft« sowie der »Auseinandersetzung mit diesen gemeinsamen Aufgaben, Problemen und Gefahren« (Klafki 2007, 53, 56). Auf diese Weise sollen Schülerinnen und Schüler nach Klafkis Dialektik der kategorialen Bildung befähigt werden, sich die Welt zu erschließen und sich für die Welt zu öffnen (erschlossen zu sein). Konkretisiert werden die Bildungsaufgaben auf der Grundlage von epochaltypischen Schlüsselproblemen (Klafki 2007, 56–60). Als die fünf zentralen epochaltypischen Schlüsselprobleme benennt Klafki (ebd.) »die Friedensfrage«, die »Umweltfrage«, die »gesellschaftlich produzierte Ungleichheit«, »Gefahren und Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien« sowie die »Subjektivität des Einzelnen und das Phänomen der Ich-Du-Beziehungen«.

Die Reichweite des Katalogs einschränkend verweist Klafki (2007) mit dem zugeordneten Merkmal »epochaltypisch« darauf hin, dass es sich bei den Schlüsselproblemen »um einen in die Zukunft hinein wandelbaren Problemkanon handelt« (ebd., 60). Ein kritischer Aspekt, der Störtländer (2019, 52) veranlasst zu fragen, ob dieser Problemkanon nach Klafki (zuletzt 2007) bisher auf Veränderungsbedürftigkeit hin überprüft wurde und »[…] ob eine Aktualisierung benötigt wird«. Die Notwendigkeit, Modifikationen und Ergänzungen an den Schlüsselbegriffen vorzunehmen, lässt sich selbst bei einer oberflächlichen Sichtung feststellen. Bei der erforderlichen Aktualisierung kann das Konzept von Martha Nussbaum (1998, 2003, 2007, 2010, 2011, 2019) weiterhelfen.

Die Schlüsselprobleme lassen sich aus der Perspektive des Befähigungsansatzes (capability approach) nach Nussbaum (2007; 2010; 2011; 2019) neu denken (vgl. hierzu im Kontext auch schwerster Beeinträchtigung die aktuellen Arbeiten von Schäfer, Zentel & Manser (2022) im Zuge der Fortschreibung der Arbeiten von Fröhlich & Haupt (2004)). Der Befähigungsansatz geht ähnlich wie die Protagonisten der kulturhistorischen Schule, Leontjew (1968; 1973; 1977; 1980), Lurija (1982) und Vygotskij (1962), davon aus, dass jedes menschliche Lebewesen mit Grundbedürfnissen (materiellen und immateriellen), Grunderfahrungen und basalen Grundbefähigungen zur Welt kommt (»erste Schwelle«). Im Laufe ihres Lebens werden Menschen mit vielen Situationen und Erfahrungen konfrontiert, und um diese bewältigen zu können, bedarf es grundlegender Befähigungen, die von der Umwelt unterstützt und gefördert werden, sodass das Individuum ein gelingendes Leben führen kann (»zweite Schwelle«) (Nussbaum 2007, 181). Als Mindestvoraussetzung einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung gilt die Ermöglichung von Verwirklichungschancen bis zur zweiten Schwelle.

Werden durch die Gesellschaft keine Ressourcen zur Verfügung gestellt, behindert dies Menschen, ihre Vorstellungen über ein gutes Leben zu realisieren. Solche Gesellschaften werden von Nussbaum (ebd.) als ungerechte Gesellschaften klassifiziert. Als grundlegende Befähigungen eines Menschen, um aus objektiver Sicht ein menschenwürdiges, aus subjektiver Sicht ein gelingendes Leben zu führen, benennt Nussbaum (2011, 32; 2019, 41–42) zehn zentrale Fähigkeiten als absolutes Minimum. Bildung gehört zu den gesellschaftlichen Kontextbedingungen, welche die Weiterentwicklung von Befähigungen unterstützen und Befähigungen auf der zweiten Schwelle erst ermöglichen. Angelehnt an Nussbaum (2011, 33–34) legt Störtländer (2019, 56) eine Zusammenstellung der zehn zentralen Befähigungen nach dem Capability-Ansatz vor, die hier gekürzt übernommen wird. Die tabellarische Auflistung ( Tabelle 1.1) kann als Zielspektrum des Befähigungsansatzes gelesen werden, aus dem Bildungsaufgaben abgeleitet werden können.

Tab. 1.1: Liste der menschlichen Befähigungen und Befähigungsdimensionen (Störtländer 2019, 40–42 nach Nussbaum 2011; 2019, 41–42) (eigene Darstellung)

Übergeordnete Zielsetzung bei Nussbaum (2003; 2007; 2010; 2011; 2019) ist das »Primat des Guten« bzw. des gelingenden Lebens. Gesellschaftlichen Einrichtungen obliegt der Auftrag, die Bürgerinnen und Bürger zu einem gelingenden Leben zu befähigen und die Freiheiten einzuräumen, die ihnen die Gestaltung eines guten Lebens ermöglichen. Dazu ist es notwendig, dass Bildung als »Kultivierung von Menschlichkeit« (Nussbaum 2003) bereits im Kindes- und Jugendalter auf die Weiterentwicklung von Befähigungen abzielt. Unter den Begriff der »Kultivierung von Menschlichkeit« und der darunter subsumierten Befähigungen lassen sich auch die drei Zielperspektiven nach Klafki (2007) von Bildung, Selbstbestimmung sowie Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit (2007, 52) fassen.

Praxis
Selbstbestimmt leben

Selbstbestimmt zu leben bedeutet, Entscheidungen selbst treffen zu können und zu dürfen auf der Grundlage von eigenen Planungen, Wünschen und Interessen.

  Die Befähigung zur praktischen Vernunft sollte von der Lehrkraft mitgedacht und an vielen Inhalten durch den Einsatz geeigneter Methoden und Materialien berücksichtigt werden. Ein Schwerpunkt der Förderung kann jede produktive Tätigkeit (auch schon in der Primarstufe), besonders aber die Berufsvorbereitung sein, um Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, ihre Interessen herauszufinden, Zukunftsplanungen zu entwerfen und eine selbstbestimmte Berufsentscheidung zu treffen, was bis heute im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung (SGE) noch nicht selbstverständlich ist (Thümmel, Erdélyi & Battke 2019, 231–232; zur Diagnostik Fischer & Kranert 2021).

  Die Fähigkeit zur Mitbestimmung umfasst auch die Befähigung zur Kontrolle über die eigene Umwelt. Menschen sollten in der Lage sein, wirksam an allen wichtigen Entscheidungen teilzuhaben, die das eigene Leben betreffen (»Nichts über uns ohne uns«). Mitbestimmung als Kontrolle über die eigene Umwelt muss gelernt werden, denn das persönliche Mitbestimmungsrecht kann an die Grenzen eines anderen oder vieler Menschen stoßen. In schulischen Situationen kann Mitbestimmung z. B. in der Schülervertretung oder anderen schulischen Gremien geübt werden (Schäfer 2020; Schütte 2020).

  Die Solidaritätsfähigkeit...