Sozialer Zusammenhalt - Das Miteinander fördern durch Essen und Kultur. Ein Praxishandbuch

Sozialer Zusammenhalt - Das Miteinander fördern durch Essen und Kultur. Ein Praxishandbuch

von: Holger Hassel, Elisabeth Foitzik, Carola Pistel, Felix Zastrow

Kohlhammer Verlag, 2023

ISBN: 9783170408104 , 182 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 30,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Sozialer Zusammenhalt - Das Miteinander fördern durch Essen und Kultur. Ein Praxishandbuch


 

9 Zusammenhalt über, mit und durch Kultur


Julius Heinicke, Katrin Lohbeck

Die Nahrungsaufnahme, das Mahl, findet stets in der Anwendung kultureller Praktiken statt. Es lässt sich durchaus behaupten, dass sich nicht nur kulturelle Annahmen und Werte hinter den Gesten des Essens verbergen, sondern Nahrungsaufnahme mit dem Ziel der Sättigung auch eine kulturelle Dimension hat. Für das Frühchristentum war die Mahlzeit das gemeinschaftsstiftende Moment schlechthin. So ist das letzte Mahl von Christus und seinen Jüngern im Neuen Testament ein grundlegender Akt, welcher in allen christlichen Religionen als Abendmahl oder Eucharistie ein Sakrament darstellt. Die heilige Aufladung einer zunächst schlichten gemeinsamen Nahrungsaufnahme ist bemerkenswert, da die Religionszugehörigkeit allein durch ein alltägliches Ritual des gemeinsamen Essens bestätigt wird. In der Betrachtung, wer Brot und Wein teilt und erhält, lassen sich jedoch vielerlei kulturelle Codes und Hierarchien entlarven: In der römisch-katholischen Kirche ist der Kelch nur dem Klerus vorenthalten, während die evangelischen Kirchen die Augenhöhe im gemeinsamen Ritual stets betonen. Die gemeinsame Eucharistiefeier stellt einen Reibungspunkt innerhalb der Ökumene dar, da diese in der jeweiligen Auslegung eine gänzlich unterschiedliche kulturelle Bedeutung hat: Während in der katholischen Interpretation im Zuge der Eucharistie Blut und Wein in Christi Leib und Blut transsubstantiiert werden und so die Gläubigen sich mit dem realen Fleisch und dem realen Blut Christi vereinigen, fungiert das Abendmahl im protestantischen Glauben eher als Zeichen bzw. Symbol und zollt primär dem Akt des gemeinsamen Mahls Tribut. Nahrungsaufnahme hat somit trotz der gleichen Zutaten (Wein und Brot) ganz unterschiedliche Konnotationen: Einerseits wird die Vereinigung mit Gott, andererseits die Gemeinschaft der Gläubigen betont.

Mit der Säkularisierung und der nun zunehmenden Entfremdung der Gesellschaft von religiösen Metaphern schwindet zwar die Wirkungsmacht der christlichen Symbolik des gemeinsamen Mahls, doch zeigt sich, dass sie sich in vielen kulturellen Praktiken des Abendlands manifestiert hat. Vorstellungen von Gemeinschaft und Nation werden einerseits über Ähnlichkeit, oftmals mittels rassistischer Kategorien und genetischer Verwandtschaft begründet. Hier wurde die katholische Vorstellung der Vereinigung mit dem Blut Christi während der Eucharistiefeier auf die Vereinigung von Menschen gleichen Glaubens übertragen und hat auf diese Weise die Vorstellung von Menschen »gleichen Blutes« hervorgebracht, so zeigen es die Studien der Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun (Braun 2018). Die Menschen sind Glieder des Staates und der Nation, wenn sie von deren Mitgliedern (»gleichen Blutes«) gezeugt wurden, eine Vorstellung, deren rassistische Tragweite sich im Nationalsozialismus verdeutlicht. Andererseits manifestieren sich Vorstellungen von Gemeinschaft und Nation ebenso in Ritualen des Teilens und gemeinsamen Handelns, was wiederum auf die Bedeutung des gemeinschaftlichen Essens im Frühchristentum und in evangelischen Traditionen hinweist. Derlei Rituale zeitigen sich besonders häufig im Kunst- und Kulturschaffen: Der Sport, das Theater, die Oper oder das Konzert, der Besuch im Museum oder das Lesen von Literatur eines bestimmen Kanons fördert nicht nur Zusammenhalt, sondern betont die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, mit jedoch ebenso hohem Potenzial, andere zu exkludieren.

Stand für das Frühchristentum das gemeinsame Abendmahl im Zeichen des Zusammenhalts der damals marginalisierten und oftmals bedrohten Gruppe von »Außenseitern«, werden kulturelle Praktiken, welche in dieser Tradition stehen, häufig dazu genutzt, andere aus der Gemeinschaft auszuschließen. Die hierfür herangezogenen kulturellen Praktiken sind von der reinen »Nahrungsaufnahme« zwar weitestgehend losgelöst, doch zeigt sich beispielsweise mit Blick auf Debatten um die Wichtigkeit von kultureller Vielfalt und kultureller Bildung, inwieweit Kultur einerseits als Grundnahrungsmittel der Gesellschaft verstanden wird, ähnlich der Hostie und des Weins im Christentum, anderseits durch Exklusion von anderen eine Gemeinschaft bildet: Im Theater- und Opernbesuch findet sich zwar traditionell die gesellschaftliche Elite zusammen, doch betont der Abschlussbericht der Enquete-Kommission des Bundestags »Kultur in Deutschland« die gemeinschaftsstiftende Funktion von Kultur: »Kultur ist kein Ornament. Sie ist das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft steht und auf das sie baut. Es ist die Aufgabe der Politik, dieses zu sichern und zu stärken« (Deutscher Bundestag 2007, S. 4).

Dieser gesellschaftspolitischen fundamentalen Bedeutung von Kultur sind einige Debatten und Wandlungen vorangegangen, die im Folgenden kurz skizziert werden. Sie verdeutlichen noch einmal mehr die Wirkungsmacht kultureller Praktiken für die Etablierung der deutschen Nation und ihrer Gesellschaft aus religiös-säkularer Metaphorik heraus. Die Ambivalenz, dass dies jedoch oftmals über Techniken des Ausschließens und Abschließens fungiert, scheint in der deutschen Geschichte immer wieder auf: Kulturinstitutionen in Deutschland haben seit Jahrhunderten eine bedeutende Funktion inne. Oftmals mitten in den Stadtzentren gelegen oder in ehemaligen Herrscherhäusern ansässig, waren und sind sie Ort der bürgerlichen Selbstbestätigung und Machtausübung. Kultur ist nicht nur Kapital im Sinne Bourdieus, sondern Partnerin der Bildung: Theater-‍, Museums- und Konzertbesuche sind für das Bürgertum unverzichtbare Rituale (Bourdieu 1982). Bei näherer Betrachtung des Begriffs »Bildungsbürgertum« wird einmal mehr der hohe Stellenwert von »Bildung« innerhalb der deutschen Gesellschaft sichtbar. Zum anderen wird deutlich, dass hinsichtlich der Definition von »Bildung« Kulturinstitutionen eine bedeutende Rolle spielen: Nicht nur Theateraufführungen gelten seit langer Zeit als Lernort bürgerlicher Etikette, sondern auch Konzerte und Ausstellungen sind für den Bildungssektor hoch geachtete Reflexions- und Erfahrungsräume. Die »Kultusministerien« der Länder sind teilweise auch für Wissenschaft und Kultur zuständig, bzw. fallen Kultur und Bildung in einem Ministerium zusammen.

Georg Bollenbeck1 zeigt in Bildung und Kultur: Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters (1994), inwieweit innerhalb des deutschen »Sonderwegs« (Bollenbeck 1994, S. 20) »›Bildung‹ und ›Kultur‹ [...] als Besitz [erscheinen], als sozialreputative Aktivposten, mit denen man sich schmückt« (Bollenbeck 1994, S. 27). In dieser Tradition lässt sich die Forderung nach »Kultureller Bildung« verorten, die nach der PISA-Misere kurz nach der Jahrtausendwende als rettender Engel am Horizont erschien und seitdem zu vielerlei Förder- und Forschungsprogrammen geführt hat. Kulturelle Bildung erscheint als ein Mittel par excellence, so führt Gerd Taube in das Handbuch Kulturelle Bildung (2012) ein: »Kaum eine kultur- oder bildungspolitische Debatte kommt in den letzten Jahren ohne den Verweis auf die Kulturelle Bildung aus. Seit ›PISA 2001/2002‹ [...] ist das Thema auch medial stark präsent« (Bockhorst et al. 2012, S. 18). Die Herausgeber*innen des Bandes Hildegard Bockhorst, Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss und Wolfgang Zacharias betonen ebenfalls die wachsende Aktualität des Themenfelds:

»Kulturelle Bildung hat Hochkonjunktur. Die Akteure im Feld entwickeln zunehmend in Theorie und Praxis programmatisch produktive Strukturen mit kreativen Institutionen und Qualitätsentwicklungen – so lautet zumindest die allgemeine und plausible Feldeinschätzung im Horizont der letzten Jahrzehnte und insbesondere in den letzten Jahren« (Bockhorst et al. 2012, S. 21).

Mit Blick auf das Verhältnis von Bildung und Kultur scheint sich der »sozialreputative Aktivposten« innerhalb der Kulturellen Bildung weiter fortzuschreiben, allerdings lässt sich mit Blick auf Bollenbecks Definition eine leicht übersehbare, doch grundlegende Verschiebung innerhalb des Wirkungskreises feststellen:

»Gemeint ist damit das gesamte Feld in der Schnittmenge von Kultur und Bildung: In der Bezüglichkeit und Wechselwirkung von ›Ich‹ und ›Welt‹, also der subjektiven und objektiven Seite von Bildung, meint Kulturelle Bildung einerseits den subjektiven Bildungsprozess jedes einzelnen wie auch die Strukturen eines Bildungsfeldes mit seinen zahlreichen Angeboten. Kulturelle Bildung bezeichnet also immer ein Praxisfeld, aber eben auch einen biografisch individuellen Bildungsprozess in, mitten und durch die Künste, eine Haltung oder sogar ein spezifisches Verständnis von Pädagogik« (Bockhorst et al. 2012, S. 22).

Die Betonung des »biografisch individuellen Bildungsprozesses« ist eine Neuakzentuierung der Kulturellen Bildung innerhalb des traditionellen Wirkungsfelds von Kultur und Bildung. Tatsächlich steht die Fokussierung auf biografische Erlebnisse, soziale Herkunft, Migrationsgeschichte etc. in der Tradition pädagogischer Strömungen seit den 1970er Jahren, der Vielfalt an individuellen Erfahrungshintergründen mit Theater- und Kunstschaffen...