Leben in wachsenden Ringen - Sinnerfülltes Alter

Leben in wachsenden Ringen - Sinnerfülltes Alter

von: Andreas Kruse

Kohlhammer Verlag, 2023

ISBN: 9783170421233 , 136 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 19,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Leben in wachsenden Ringen - Sinnerfülltes Alter


 

Einleitung


Zum Titel und Anliegen des Buches


Der Titel des vorliegenden Buches ist einem im Jahre 1899 von Rainer Maria Rilke (1875–1926) verfassten Vers entlehnt, der sich in dem 1905 erschienenen Werk »Das Buch vom mönchischen Leben« findet.1 Dort heißt es im dritten und vierten Vers:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

 

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

Mit den »wachsenden Ringen« sind hier die seelisch-geistigen, also die »inneren« Lebensringe gemeint. Das Sprachbild der wachsenden Ringe beschreibt zum einen die mit der Lebensgeschichte zunehmende Anzahl von Lebensbereichen, in denen die Person Erfahrungen und Erkenntnisse gewinnen kann, zum anderen die Möglichkeiten weiterer Ausgestaltung der Erfahrungen und Erkenntnisse bei wiederholter Betrachtung eines Lebensbereichs oder bei wiederholter Beschäftigung mit diesem. Im erstgenannten Falle kann von einer Erweiterung (horizontale Perspektive) gesprochen werden, im zweitgenannten Fall von einer Vertiefung (vertikale Perspektive). Um diese beiden Perspektiven zu veranschaulichen, sei auf die beiden ersten Verse des Werkes »Das Buch vom mönchischen Leben« eingegangen, die wie folgt lauten:

Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann –
und ich fasse den plastischen Tag.

 

Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.

Der Glockenschlag erinnert an die verrinnende Zeit und zugleich an die Aufgabe und Möglichkeit, die Zeit zu nutzen, sich suchend, fragend, erlebend, erfahrend der Welt hinzugeben: sei es, dass man Neues findet, erlebt und erfährt, sei es, dass man bereits Gefundenes noch einmal findet, erlebt und erfährt – und dies in veränderter, vielleicht sogar vertiefter Form. Darin liegt das Moment des plastischen Tages. Die Vertiefung kommt vor allem im zweiten Vers zum Ausdruck, in dem zunächst die Wechselwirkung zwischen Betrachtendem und Betrachtetem im Zentrum steht und dann das Werden, das durch die Blicke des Betrachtenden angestoßen wird. In dieser Wechselwirkung verändert sich nun die bzw. der Betrachtende selbst, so wie sich in der Betrachtung auch die Dinge selbst wandeln.

Deute ich Entwicklung im Lebenslauf seelisch-geistig, dann erscheint mir auch das Leben im Alter als eine Lebensphase, in der bedeutende Entwicklungsschritte stattfinden können. Damit widerspricht auch die Tatsache, dass sich im Falle körperlicher Krankheiten und Beeinträchtigungen die Mobilität im hohen Alter deutlich verringert und damit die Erreichbarkeit vieler Orte in der räumlichen und sozialen Welt erschwert ist, nicht dem Erleben und der Erfahrung alter Menschen, sich in der seelischen und geistigen Welt immer weiter »vorzutasten«. Die intensive Zuwendung zur eigenen Psyche (als seelischer Prozess) und zum eigenen Geist (als geistiger Prozess) habe ich mit »Introversion mit Introspektion« umschrieben – damit ausdrückend, dass ich im hohen Alter immer weiter in mich eingehen (Introversion) und dabei zu persönlich bedeutenden Einsichten und Erkenntnissen (Introspektion) gelangen kann.2 Ich mag also körperlich in meiner Beweglichkeit erkennbar eingeschränkt sein (was übrigens nicht notwendigerweise der Fall sein muss), kann aber seelisch-geistig ein hohes Maß an Freiheit und Beweglichkeit zeigen. Im Sinne dieser inneren Freiheit und Beweglichkeit lässt sich das Naturgedicht »Mondnacht« deuten, das der Schriftsteller Joseph von Eichendorff (1788–1857) im Jahre 1837 veröffentlicht hat.3

Es war, als hätt der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müsst.

 

Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.

 

Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.

Die Seele, so legt es dieses Gedicht nahe, kann sich sozusagen vom Körper lösen und in diesem Freisein von irgendwelchen äußeren Hindernissen ganz zu sich selbst kommen (»als flöge sie nach Haus«). In dieser Verschmelzung von Seele, Natur und Kosmos wird ein Lebens- oder Daseinsthema nicht weniger alter Menschen ausgedrückt, wie sich mir in vielen Interviews zeigte.

Nun heißt es in dem dritten Vers aus dem Werk »Das Buch vom mönchischen Leben« jedoch: »Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.« Was ist damit gemeint? Hier wird angedeutet, dass unser Erkennen und Handeln an Grenzen stoßen kann, die vielleicht auf den ersten Blick unüberwindbar erscheinen. Aber nur auf den ersten Blick. Derartige Grenzen stoßen in aller Regel seelisch-geistige Versuche an, zu einem tieferen Verständnis der Begrenztheit unseres Erkennens und Handelns sowie der Unvollkommenheiten unseres Lebens zu gelangen; vor allem in der immer weiter zunehmenden körperlichen Verletzlichkeit werden uns ja diese Unvollkommenheiten deutlich bewusst. Jeder, der über ausreichende Erfahrungen im Umgang mit alten Menschen verfügt, weiß, wie sehr die zunehmend spürbare körperliche Verletzlichkeit als eine Grenzsituation erlebt wird, in der die Person geradezu niedergedrückt oder verzweifelt sein kann. Diese Grenzsituation ist auch als eine besondere Herausforderung für unsere Psyche zu verstehen, die sich an die Tatsache der Verletzlichkeit anpassen, diese als Teil der Existenz (also der Conditio humana) annehmen muss. Doch lässt sich auf der Grundlage von (medizinisch-)psychologischen Befunden konstatieren, dass es alten Menschen durchaus gelingen kann, diese Anpassung zu leisten und die eigene Verletzlichkeit innerlich anzunehmen. Dies gelingt vor allem dann, wenn die Person die Erfahrung macht, im Leben eine Aufgabe zu haben, von anderen Menschen geschätzt und geachtet zu sein oder gebraucht zu werden. Dies habe ich auch für die Lebenssituation des alten Menschen am Ende seines Lebens aufzuzeigen versucht.4

Grenzsituationen gewinnen im hohen Alter zunehmend an Gewicht: Man denke hier nur an die schwere Erkrankung und den Tod eines nahestehenden Menschen oder aber an die eigene schwere Erkrankung, schließlich an die immer stärker ins Bewusstsein tretende, eigene Endlichkeit. Sensorische, motorische und geistige Einbußen können – so sie eintreten und subjektiv erfahrbar werden – als Grenzen eigenen Handelns erlebt werden, die zunächst als unüberwindbar erscheinen. Auch hier gilt: Es kann alten Menschen allmählich gelingen, Verluste in einer sensorischen oder motorischen Funktion durch vermehrte Akzentuierung einer anderen Funktion auszugleichen (Beispiel: noch stärkere Konzentration auf das Hören im Falle von Seheinbußen). Es kann ihnen gelingen, sich innerlich von Einbußen und Verlusten in einzelnen sensorischen und motorischen Funktionen zu distanzieren und sich stattdessen vermehrt auf seelische und geistige Prozesse zu konzentrieren (Beispiel: an die Stelle des »äußeren Hörens« tritt das »innere Hören«, an die Stelle des »äußeren Sehens« das »innere Sehen«). Der erfolgreiche Ausgleich, vor allem die erfolgreiche Distanzierung ist das Ergebnis seelischer und geistiger Prozesse, die zur tiefgreifend veränderten emotionalen Besetzung einzelner Funktionen und Lebensbereiche führen: manche Funktion, mancher Lebensbereich tritt nun in ihrer bzw. seiner Bedeutung für die Person zurück, eine andere Funktion, ein anderer Lebensbereich tritt nun deutlicher hervor. Dabei spielt der Zugang zur Natur, zur Ästhetik und zu anderen Menschen eine wichtige Rolle; zu nennen ist weiterhin die Erfahrung wahrhaftiger Kommunikation.

»Ich kreise um Gott, um den uralten Turm«: Hier wird eine spirituelle, wenn nicht sogar eine religiöse Dimension offenbar, die in der Betrachtung des hohen Alters nicht vernachlässigt werden darf. Es gibt existenzpsychologische Theorien, die in der zunehmenden spirituellen (also geistigen) oder religiösen (also gläubigen) Haltung ein Potenzial des hohen Alters erkennen. Dies bedeutet nicht, dass alle alten Menschen »gläubig« wären oder »gläubig« werden sollten. Angesprochen ist hier...