Digitale Beratung in der Sozialen Arbeit

Digitale Beratung in der Sozialen Arbeit

von: Martina Hörmann, Dominik Tschopp, Joachim Wenzel, Rudolf Bieker, Heike Engel

Kohlhammer Verlag, 2023

ISBN: 9783170421783 , 134 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Digitale Beratung in der Sozialen Arbeit


 

1 Einführung: Menschen mit digitalen Medien erreichen und unterstützen


Unser Alltag ist stark von digitalen Medien durchdrungen. Gemäß der ARD/ZDF-Onlinestudie 2022 nutzen in Deutschland 100 Prozent der unter 50-Jährigen das Internet. In der Gruppe der 50- bis 69-Jährigen sind es 95 Prozent, bei Personen ab 70 Jahren immer noch 80 Prozent. Nicht nur steigt die Anzahl der Personen, die das Internet nutzen, sondern auch die Nutzungsintensität (Beisch & Koch 2022). Die Entwicklung in anderen deutschsprachigen Ländern ist vergleichbar (für die Schweiz bspw. Latzer et al. 2021): Das Internet nimmt nicht nur im Alltag von Jugendlichen einen bedeutenden Stellenwert ein, sondern immer stärker auch bei älteren Bevölkerungsgruppen. Es ist daher naheliegend, dass sich Personen auch dem Internet zuwenden, wenn sie Informationen oder Unterstützung zu ihren individuellen Problemlagen suchen. Der Einsatz digitaler Medien in der Beratung entspricht diesem Bedürfnis und der Lebenswelt der Klient*innen. Insofern hat sich Beratung in den vergangenen Jahren rasant weiterentwickelt.

Digitale Medien

Medien können in primäre, sekundäre, tertiäre und quartäre (Kommunikations-)‌Medien unterschieden werden. Mit Primärmedien sind Körpermedien gemeint, die ihre Ausprägung in den Sinneswahrnehmungen Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken finden. Sekundärmedien sind Objektmedien, künstliche Objekte, zu deren Produktion technische Hilfsmittel (z. B. Buchdruck) verwendet werden. Sie können durch Körpermedien i. d. R. ohne Hilfsmittel decodiert werden. Beispiele dafür sind Bild, Brief, Buch oder Zeitschrift. Als Tertiärmedien werden elektronische Medien bezeichnet, für deren Erstellung und für deren Rezeption technische Geräte erforderlich sind, z. B. Radio oder Fernsehen. Quartärmedien sind digitale Medien. Die dabei zum Einsatz kommenden technischen Geräte sind Computer bzw. Computernetze (z. B. E-Mail oder Chat). Aufgrund der technischen Entwicklung können Tertiärmedien heutzutage in den meisten Fällen ebenfalls zu Quartärmedien gezählt werden, wie die Beispiele Digitalradio oder Internet-Telefonie zeigen (Wenzel 2013).

Internet als Medium erster Ordnung

Das Internet kann techniksoziologisch als Medium erster Ordnung charakterisiert werden. Es stellt eine technische Infrastruktur dar, auf der verschiedene Medien zweiter Ordnung wie z. B. E-Mail oder das World Wide Web (kurz Web) aufbauen können (Beck & Jünger 2019).

Digitale Ungleichheiten und digitale Teilhabe

Um mit einem Beratungsangebot die anvisierte‍(n) Zielgruppe‍(n) im bzw. über das Internet zu erreichen, braucht es dennoch einen differenzierten Blick. Schaut man sich die Gründe für die Nichtnutzung des Internets an, so fällt auf, dass neben bewusstem Nutzungsverzicht auch sozialer Ausschluss eine Rolle spielt. Schon längere Zeit gibt es einen Diskurs um digitale Spaltung (Kutscher & Iske 2021). Ungleichheiten zeigen sich dabei nicht nur bei der Nichtnutzung des Internets (first-level digital divide), sondern auch in unterschiedlichen Nutzungsweisen (second-level digital divide) oder sogar auf einer infrastrukturellen Ebene (zero-level digital divide). Benachteiligung kann dadurch im digitalen Raum reproduziert werden und das Internet kann zu neuen Ausschlussmechanismen führen, die sich auch im Kontext von Beratung zeigen (Klein 2007).

Wird der Alltag von Menschen in allen seinen Facetten zunehmend durch digitale Medien (mit-)‌bestimmt, so wird klar, dass gesellschaftliche Teilhabe nur möglich wird, wenn Menschen digital teilhaben können. Soziale Teilhabe bedingt zunehmend digitale Teilhabe. Organisationen der Sozialen Arbeit machen es sich daher zum Ziel, benachteiligte Personengruppen in diesem Prozess zu unterstützen. Trotz der Diskussion um digitale Ungleichheiten: Ein zentrales Potenzial digitaler Medien in der Beratung liegt darin, neue Zugangsmöglichkeiten zu Beratungsangeboten zu schaffen.

Niedrigschwelligkeit digitaler Medien in der Beratung

Für viele Menschen sind solche Zugänge niedrigschwelliger als herkömmliche Zugangswege. Ob ein Angebot eher niedrigschwellig oder hochschwellig ist, hängt vom jeweiligen individuellen Kontext ab. Niedrigschwelligkeit ist gegeben, wenn vielfältige Zugangsmöglichkeiten zu Beratung bestehen, die Klient*innen möglichst passgenau zu ihren Bedürfnissen in Anspruch nehmen können (Wenzel 2013). So ist eines der wesentlichen und herausragenden Kennzeichen die zeitliche und räumliche Flexibilität, die bspw. die Mailberatung bietet. Klient*innen können ein Anliegen deponieren, unabhängig davon, an welchem Ort sie sich gerade befinden (Internetzugang vorausgesetzt) und wie spät es gerade ist (dazu ausführlich ▸ Kap. 2).

Etablierung der Onlineberatung

Neben der örtlich-zeitlichen Flexibilität, die durch digitale Medien ermöglicht wird, wird häufig betont, dass es vielen Personen leichter fällt, insbesondere schambehaftete oder stigmatisierende Themen anonym anzusprechen. Onlineberatung wird im deutschsprachigen Raum primär als anonyme Beratung gefasst, die schriftbasiert in Form von Mail, Chat oder Forum umgesetzt wird. Die Onlineberatung hat sich u. a. aus der Telefonseelsorge entwickelt und sich in den letzten 20 bis 25 Jahren als eigenständiges Angebot in der psychosozialen Beratungslandschaft etabliert (Kühne 2009, Reindl 2018). »Ihr spezifischer Beitrag zur Weiterentwicklung der Beratung liegt vor allem darin, den Ratsuchenden wie auch den Beratungsfachkräften die Möglichkeit der Anonymität zu verschaffen, mit dem Effekt der themen- und personenbezogenen Niedrigschwelligkeit« (Reindl 2018, 23).

Neue Perspektiven in der Beratung im digitalen Setting

Digitale Medien können selbstverständlich auch bei nicht-anonymer Beratung eingesetzt werden. In diesem Kontext sind in den letzten Jahren verschiedene Möglichkeiten diskutiert, erprobt und realisiert worden, die die Perspektive auf Onlineberatung öffnen.

Während im englischsprachigen Diskurs videobasierte Formen der Beratung schon seit einiger Zeit diskutiert werden, wird die Videoberatung im deutschsprachigen Raum erst in jüngster Zeit stärker berücksichtigt. Ein Zusammenhang mit der Corona-Pandemie scheint hier nicht von der Hand zu weisen zu sein. In vielen Beratungsorganisationen wurde Videoberatung eingeführt, aufgrund des Handlungsdrucks zum Teil ohne vorgängige konzeptionelle Überlegungen, so dass Beratungsangebote trotz Kontaktbeschränkungen weiterhin angeboten werden konnten.

Zudem wird der Einsatz von Messengern in der Beratung immer häufiger diskutiert und erste Pilotprojekte dazu realisiert. Messenger haben eine hohe Bedeutung in der Alltagskommunikation erlangt, so dass sich hier die Frage stellt, welchen Stellenwert Messenger in der Beratung haben (können) und inwiefern sich durch neue Mediennutzungsweisen Beratung zukünftig verändern könnte (Engelhardt & Piekorz 2022).

Mit Blended Counseling wird eine Beratungsform diskutiert und in der Praxis etabliert, die versucht, die Vorteile der Beratung im physischen Präsenzsetting mit den Einsatzmöglichkeiten digitaler Medien zu kombinieren. Blended Counseling wird dabei verstanden als systematische, konzeptionell fundierte Kombination von digitalen und analogen Kommunikationssettings im Beratungsprozess (Hörmann & Engelhardt 2022, ▸ Kap. 3).

Beratung im digitalen Setting

Um diesen neueren Entwicklungen Ausdruck zu verleihen, benutzen wir in diesem Band den Begriff »Beratung im digitalen Setting«. Wir möchten damit der Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten von digitalen Medien in der Beratung gerecht werden. Die Setzung von Onlineberatung als anonyme schriftbasierte Beratung in Form von E-Mail, Chat und Forum wird dem nicht (mehr) gerecht. Den Begriff »Onlineberatung« verwenden wir dort, wo explizit dieses ursprüngliche Verständnis gemeint ist.

Mediatisierung in der Sozialen Arbeit

Eingebettet ist die Thematisierung dieser neuen Perspektiven in eine mittlerweile breit geführte Diskussion um die Mediatisierung bzw. Digitalisierung Sozialer Arbeit (Überblick bei Kutscher et al. 2020). In dieser wiederum nimmt der Diskurs um Onlineberatung bzw. die Beratung in digitalen Settings einen prominenten Stellenwert ein. Von Mediatisierung wird gesprochen, da der derzeitige Wandel von Medien und Kommunikation immer weitere Bereiche des menschlichen Lebens durchdringt. Die Soziale Arbeit sieht sich durch diese Veränderung der Lebenswelten ihrer Adressat*innen herausgefordert (Steiner 2015).

Digitalisierung

Mit Digitalisierung werden ganz unterschiedliche Sachverhalte benannt. Auf einer technischen Ebene kann Digitalisierung verstanden werden als Überführung kontinuierlicher (analoger) Signale in diskrete (digitale) Werte eines Binärcode. Aus Sicht der Sozialen Arbeit interessiert Digitalisierung jedoch weniger als technologisches Phänomen, sondern vielmehr als sozialer Transformationsprozess. In diesem Zusammenhang wird in Anlehnung an den soziologischen Begriff des Wandels auch von digitalem Wandel gesprochen (Kreidenweis 2018a). Der Begriff digitale Transformation...