Psychotisches Erleben - Psychodynamik, Beziehungsdynamik, Behandlung

Psychotisches Erleben - Psychodynamik, Beziehungsdynamik, Behandlung

von: Joachim Küchenhoff, Michael Ermann, Dorothea Huber

Kohlhammer Verlag, 2023

ISBN: 9783170435216 , 118 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 25,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Psychotisches Erleben - Psychodynamik, Beziehungsdynamik, Behandlung


 

2. Vorlesung
Psychodynamik und Beziehungsdynamik des psychotischen Erlebens


Zu Beginn möchte ich noch einmal erinnern an die am Ende der ersten Vorlesung vorgestellte Kasuistik, die von Frau L. handelte, die sich in der Adoleszenz jahrelang zurückgezogen hat, um sich eine eigene Welt aufzubauen, die imaginär ist, also nur in der Fantasie besteht und keinen Bezug mehr zur geteilten Wirklichkeit, zur anerkannten symbolischen, zwischenmenschlich akzeptierten und sozial geregelten Ordnung hat. Wir hatten bereits zuvor einen Umweg gemacht, nun will ich ihn erneut nehmen, indem ich bei der Normalpsychologie beginne. Psychotische Störungen sind ein Vergrößerungsglas: Sie machen uns darauf aufmerksam, welche integrativen Aufgaben alle Menschen jederzeit und immer erbringen. Aus dem Fehlen oder dem Entgleiten einer Funktion oder einer Fähigkeit wird deutlich, was normalerweise mit dieser Fähigkeit verbunden ist. Psychopathologie erhellt in diesem Sinne die Psychologie. Das wollen wir zunächst am Beispiel der Selbst-Objekt-Differenzierung weiterverfolgen. Wir wollen auch jetzt den Schwerpunkt legen auf die Beziehungen oder die Schwierigkeiten, Beziehungen zu leben, und wie das erschütterte Selbst sich selbst zu stabilisieren versucht. Damit verfolgen wir eine psycho- und beziehungsdynamische Perspektive.

Einleitend will ich Ihnen erläutern, von welchem Erfahrungshorizont ich spreche. Heute bin ich in freier psychotherapeutischer Praxis tätig, in der ich auch psychotisch erlebende Menschen behandle. Bis 2018 habe ich als Psychoanalytiker eine große psychiatrische Institution, die Psychiatrie Baselland, geleitet, von dort stammen die meisten Erfahrungen, die ich durch Begegnungen im Rahmen des stationären Aufenthaltes in der Klinik gemacht habe. Meine Leitungserfahrung hat mich in der Überzeugung bestärkt, dass eine psychotherapeutische Grundhaltung, aus welchem psychotherapeutischen Grundmodell sie auch erwachsen mag, nicht nur für die psychotherapeutischen Einzelkontakte entscheidend wichtig ist, sondern für alle in der Psychiatrie relevanten Settings, und auch für alle Patienten und Patientinnen, die in eine Klinik kommen und in der Akutstation behandelt werden. Für mich selbst ist dabei die psychoanalytische Haltung entscheidend, die ich von der therapeutischen Technik unterscheide. Viele Techniken lassen sich in den ungewöhnlichen Situationen nicht anwenden, das Denken in psychotherapeutischen oder psychodynamischen Kategorien aber ist überall nützlich.

Die Nähe-Distanz-Dilemmata


Ganz zentral für das Verstehen der Psychose, vor allem in der schizophrenen Psychose ist es, das Nähe-Distanz-Dilemma in Beziehungen zu verstehen. Um es richtig zu verstehen, ist ein Umweg notwendig, den wir auch in den nächsten Tagen immer wieder beschreiten werden. Wir nähern uns der Psychopathologie, indem wir erst einmal die Herausforderungen beschreiben, die sich uns allen stellen. Werfen wir dazu ein Blick auf die Entwicklungspsychologie.

In der normalen Kindesentwicklung – folgt man den epochalen Forschungen von Daniel Stern – entwickelt sich frühzeitig ein Selbst, das sich fortlaufend konturiert, strukturiert und sich im Erleben von seiner Umwelt abgrenzt. Während nach Stern die Erfahrungen mit der unbelebten Umwelt, mit Räumen und Gegenständen also, relativ gleichförmig und realitätsadäquat abgebildet werden, werden Beziehungserfahrungen ausgesprochen vielfältig und individuell verarbeitet. Die Interaktionserfahrungen werden als »Schemata des Zusammenseins« oder »Schemata des Zusammenseins mit Anderen«18 gespeichert, die in unterschiedlichen Erfahrungsmodalitäten repräsentiert werden: als sensomotorische Schemata, also körperlich durch sensible Afferenzen und motorische Efferenzen, als Wahrnehmungsgestalten, d. h. durch die Sinnesorgane, als symbolische Konzepte durch den Verstand und schließlich als Erinnerungen und Erzählungen durch das sprachliche Selbst.

Entscheidend ist nun, wie sich Selbstkonzepte und Schemata des Zusammenseins im Verhältnis zueinander entwickeln. Wie ich mit anderen zusammen bin, prägt meine eigene Persönlichkeit, meine Selbstsicht, mein Selbstgefühl, und umgekehrt: Meine Persönlichkeit beeinflusst, wie ich mit anderen zusammen sein kann. So entsteht eine besonders wichtige Polarität, die aufgebaut wird von der Spannung zwischen dem Bezug auf andere und dem Bezug auf das eigene Selbst. Auf der einen Seite stehen Identität, Selbstständigkeit und Autonomie, aber auch Isolierung und Einsamkeit, auf der anderen Seite Bindung, Nähe, aber auch Abhängigkeit und Symbiose. Die Operationalisierte psychodynamische Diagnostik baut in ihrer Strukturachse die Persönlichkeitsstruktur auf dieser Polarität zwischen Selbst- und Objektbezug auf.

Das Gleichgewicht von Selbstbild und Fremdbild, von Nähe und Distanz kann sich allerdings stark verschieben, diese Vereinseitigungen in der Polarität sollen nun beschrieben werden.

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    Das Gefühl der Nähe, das sich steigern kann bis zur Verschmelzung und dem Verlust der Ichgrenzen, steht dem Pol der Isolation und Bezugslosigkeit und Einsamkeit gegenüber. Wie gut kann ich allein sein? Wie gut kann ich mit anderen zusammenleben? Wie kann ich meine eigene Identität ausbilden in der Bezogenheit, aber auch in der Abgrenzung zu anderen? Eine eigene Identität, ein sicheres Selbstgefühl kann sich nur herausbilden, wenn ich dieses fundamentale Problem von Bezogenheit und Alleinsein, von Nähe und Distanz gut austarieren kann.

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    Dazu gehört sehr stark, ob ich den anderen in seiner eigenen Persönlichkeit gleichsam objektiv sehen und, indem ich mich in ihn einfühle, in seiner Subjektivität erfassen kann, oder ob ich den anderen, das Gegenüber, den Mitmenschen mit meinen eigenen Vorstellungen, Wünschen, Ängsten überfrachte. Nur wenn ich dies nicht tue, werde ich ihn als anderen und in seiner Andersheit ernst nehmen und achten können.

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    Wiederum eng damit verknüpft ist ein anderes Dilemma, das ich zu lösen habe; ein Dilemma, das der Frankfurter Psychiater und Psychoanalytiker Stavros Mentzos als das Dilemma zwischen Selbstwert und Objektwert beschreibt.19

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    Entwicklung ist Differenzierung, Loslösung kann – denken wir an die großen Probleme, die die Adoleszenz in der Entwicklung des Menschen aufwirft – als Aggression erlebt werden, sei es wegen einer starken aggressiven inneren Spannung, sei es weil andere dies widerspiegeln und auf Loslösungsschritte mit Betroffenheit oder Ablehnung reagieren. Dann kann Loslösung mit großen Ängsten verbunden sein, die wichtigen Bezugspersonen zu kränken oder sie sogar zu verlieren. Helm Stierlin, der Pionier der Familientherapie, der im September 2021 verstorben ist und in den ich hier mit Hochachtung erinnern möchte, hat von »bezogener Individuation« gesprochen.

In der christlichen Ethik heißt es, der Menschen solle seinen Nächsten lieben wie sich selbst. In diesem Fall sind Selbstwert und Objektwert einander gleichwertig. Knüpfen wir wieder an das narzisstische Erleben an, um zu verdeutlichen, was hier gemeint ist: Sich auf Kosten anderer zu stabilisieren, sich des eigenen Wertes zu vergewissern, indem andere entwertet werden, findet sich oft bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen.

Dilemmata der Selbst-Objekt-Differenzierung in der Psychose


Offenbar ist es dem später psychotisch Kranken irgendwann (ich lasse offen, wann) in der eigenen Entwicklung schlecht oder nicht möglich gewesen, die Polaritäten zu ertragen, die sich aufspannen zwischen Verschmelzung und Einsamkeit, Vereinnahmung (Besetzung) und Gehenlassen (Anerkennung), Selbstliebe und Objektliebe, Liebe und Destruktivität. Es entstehen, wie Mentzos dies genannt hat, Dilemmata, aus denen sich die Menschen sehr schlecht befreien können (▸ Tab. 1). Das kann daran liegen, dass Entwicklung, also Differenzierung, Eigenständig-werden sich wie eine Trennung, wie ein Abschied für immer angefühlt hat, und zwar einer, der schlimmstenfalls die ganze Beziehung zerstört, sodass es kein Jenseits des Verlustes oder der Einsamkeit geben kann. Das Selbst hat Angst davor, dass es sich gleichsam losreißen muss vom Objekt, und im Wort »losreißen« ist bereits enthalten, dass Individuation in diesem Fall als etwas Zerstörerisches erlebt wird. Entscheidend bei jeder Loslösung und Trennung ist es, dass das Gegenüber, die wichtigen Bezugspersonen nicht gekränkt sind, sich nicht ihrerseits zurückziehen, das Kind, das sich abgrenzt, strafen, etwa durch Liebesentzug.20 Sonst richtet der aufkeimende Wunsch nach Verselbstständigung – aus der eigenen Fantasie heraus gesprochen – einen endgültigen Schaden an.

Tab. 1:Wichtige Konzepte von Stavros Mentzos

Konzepte

Konsequenzen

Funktionalität psychischer Störungen

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    Psychische Störungen sind nicht...