Colines Welt hat neue Rätsel - Alltagsgeschichten und praktische Hinweise für junge Erwachsene mit Asperger-Syndrom

Colines Welt hat neue Rätsel - Alltagsgeschichten und praktische Hinweise für junge Erwachsene mit Asperger-Syndrom

von: Nicole Schuster

Kohlhammer Verlag, 2023

ISBN: 9783170438279 , 168 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 23,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Colines Welt hat neue Rätsel - Alltagsgeschichten und praktische Hinweise für junge Erwachsene mit Asperger-Syndrom


 

2 Coline und die Abiturprüfung


Liebes Tagebuch,

kannst du dir vorstellen, was mir heute passiert ist? Ich habe in der schriftlichen Abiturprüfung in Biologie absolut versagt. Ausgerechnet in Biologie, meinem aller-‍, allerliebsten Lieblingsfach.

Wie es dazu gekommen ist? Das ist eine lange Geschichte. Dabei war ich doch so gut vorbereitet. Schon am letzten Schultag, als alle meines Jahrgangs den »Abistreich« durchgeführt haben und sehr zum Vergnügen der anderen Schüler die Lehrer verulkt haben, habe ich angefangen zu lernen. Dieser Abistreich wäre eh nichts für mich gewesen. Grässliches läuft da ab. Schon morgens ist nur Chaos. Die Schule ist abgesperrt und alles mit weiß-roten Absperrbändern zugehängt. Nur ein kleiner Eingang ist offen, da müssen sich alle Schüler und Lehrer durchquetschen. In dem engen Durchgang werden sie von den Abiturienten mit Wasserpistolen beschossen und mit Wasserbomben beworfen. Wer Pech hat und von einem Abiturienten gefasst wird, dem malen sie »ABI 10« auf die Wangen.

Auf dem Schulhof läuft am Abistreich-Tag fürchterlich laute Musik. Die Abiturienten sind alle betrunken. Das kommt daher, weil die meisten von ihnen schon die ganze Nacht Party gemacht haben. Jetzt holen sie einige Lehrer nach vorne auf eine Bühne, stellen ihnen respektlose Fragen, lassen sie an dämlichen Spielchen teilnehmen oder zwingen sie, Karaoke zu singen. Abscheulich und entwürdigend. Für die Lehrer, die auch noch freiwillig mitmachen, für die Abiturienten, die so betrunken sind, dass ihr Verstand aussetzt, und für die schaulustigen Schüler, die sich das ansehen und durch ihren Applaus Einverständnis signalisieren. Selbst die ganz jungen Kinder aus den unteren Stufen machen fleißig mit und lachen, tanzen und finden das alles »total cool«.

Nein, danke. Meine Vorstellung von »total cool« ist eindeutig eine andere. Ich habe mich an besagtem Tag entschuldigt und mit Magenschmerzen vom Unterricht, falls denn dieser überhaupt noch stattgefunden hat, befreit. Seit ich 18 bin, darf ich meine Entschuldigungen nämlich selbst schreiben, was sehr praktisch ist. Und gelogen war das mit den Magenbeschwerden auch nicht: Beim bloßen Gedanken an das, was an jenem Tag in der Schule ablaufen würde, wurde mir übel.

Ich verbrachte den Tag also zu Hause mit Lernen. Am Morgen stellte ich als erstes einen Lernplan auf. Dazu nahm ich ein Din-A3 Blatt, teilte es in 50 Tabellenkästchen, wobei jedes Kästchen für einen Lerntag stand. In jedes Kästchen trug ich das Pensum ein, das für den Tag zu erfüllen war. Das fertige Kalender-Poster hängte ich über meinem Schreibtisch an die Wand. Danach ging ich runter zum Frühstück. Opa las gerade in der Tageszeitung.

»Steht etwas interessantes drin?«, fragte ich.

»Ja«, sagte Opa. »Jede Menge.«

»Zum Beispiel?«

»Unsere Kanzlerin ist zur Politikerin des Jahrzehnts gewählt worden, der Ölpreis steigt mal wieder und der FC Fußballfreunde hat gewonnen.«

»Ich meinte etwas Interessantes«, sagte ich.

»Am Wochenende ist Zeitumstellung«, sagte Opa.

»Die ist doch jedes Jahr«, sagte ich und köpfte ein Frühstücksei. Das Ei war genau perfekt, im richtigen Zustand zwischen flüssig und fest. Ich tunkte etwas Brötchen in das Eigelb, salzte ordentlich und trank einen Schluck Kakao hinterher. Danach nahm ich mir die Seite vom Lokalteil. Und hier stand doch etwas Interessantes. Der Bürgermeister plante einen neuen Stadtpark. Warum hatte Opa das nicht gleich gesagt? Dort würden sie bestimmt auch Moospflänzchen anbauen.

Ich wollte mich bei Opa gerade beschweren, weil er mir das wichtigste verheimlichen wollte, da atmete er plötzlich ganz schwer. Er hatte in letzter Zeit öfter solche Anfälle von Luftnot. Irgendwas war mit seiner Lunge nicht in Ordnung. Opa war deswegen auch schon mehrmals im Krankenhaus gewesen, einmal vor ein paar Jahren sogar sehr lange. Damals hat man ihn operiert, genaueres weiß ich aber nicht. Opa mag nicht darüber sprechen.

Ich besah mir Opas Gesicht, die tiefen Falten, die dünnen, weißen Strähnen, die ihm ins Gesicht hingen, ich sah runter auf seine großen, knittrigen und zitternden Händen. Es stand außer Frage: Opa war alt geworden. Das tat weh. Es durfte nicht sein. Opa war immer da gewesen, hatte jeden Spaß mitgemacht und das, solange ich denken kann. Und jetzt war er plötzlich alt. Und irgendwann würde er gar nicht mehr sein. Leben ist vergänglich. So wie auch eine Moospflanze nicht ewig lebt. Irgendwann vergeht sie und macht Platz für neue Moospflänzchen, für neues Leben.

Ich wollte nicht länger darüber nachdenken und stand auf, um Opas Anblick zu entkommen, der mich sofort wieder an diese furchtbare Vergänglichkeit erinnern würde.

»Coline«, hustete Opa mir hinterher. »Du hast ja noch gar nicht aufgegessen.«

Ich konnte nicht mehr essen. Nicht, wenn Opa so fürchterlich alt neben mir saß.

Ich flüchtete in mein Zimmer und tat das, was immer bei Traurigkeit hilft: Arbeiten. Lernen hat schon immer bei doofen Dingen geholfen, zum Beispiel auch damals, als Mama ihren neuen Freund kennen gelernt hatte, diesen Gerhard, bei dem sie jetzt ständig ist. Aber nicht an Gerhard denken! Gerhard ist noch übler als Opas Greisenhaftigkeit. Ich schlug das Biologiebuch auf und begann zu lernen.

Pünktlich um elf Uhr machte ich Pause. Ich ging runter, hörte, wie Opa in seinem Lieblingssessel laut schnarchend schlief, und machte mir in der Küche ein Brot mit Schoko-Nuss-Aufstrich. Ich nahm es mit in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett und las in meinem neuen Krimi, während ich aß. Danach fuhr ich noch eine halbe Stunde auf meinem Heimtrainer, um den Kopf frei zu bekommen und danach ging es weiter mit dem Lernen.

Um halb zwei kam Mama von der Arbeit nach Hause. Sie wärmte das gestern Abend vorgekochte Essen für sich und Opa auf und ich machte mir Nudeln mit Ketchy's Ketschup, mein Lieblingsgericht. Beim Essen erzählte ich Mama von meinem Lernplan.

»Ist Opa alt?«, fragte ich, nachdem Opa vom Tisch aufgestanden war.

Mama zog die Augenbrauen hoch.

»88 Jahre ist er, Coline. Das ist alt.«

»Meinst du, er lebt noch lange?«, fragte ich mit zitternder Stimme.

Ich hatte Angst vor der Antwort.

»Bestimmt!«, sagte Mama. »Das wollen wir doch schwer hoffen.« Ich war erleichtert.

»Und warum atmet er so schwer? Und warum schnarcht er so röchelnd? Und warum tränen seine Augen immerzu und warum schnieft er so?«

»Na, weil Opas Allergie wieder angefangen hat! Es ist doch jetzt die Jahreszeit dafür. Die Pollen fliegen. Das sollte meine kleine Biologin eigentlich wissen.«

»Natürlich weiß ich, dass die Pollen fliegen. Aber ich wusste nicht, dass Opa deswegen so röchelt.«

Ich war beruhigt. Mein Arbeitspensum am Nachmittag erfüllte ich mit leichteren Gedanken.

Und so vergingen die Tage. Jeden Tag arbeitete ich ein Programm-Kästchen von meinem Lernposter ab. Plötzlich war Ostern da, was für mich dieses Jahr aber nicht stattfand. Ostern war laut Plan ein ganz normaler Arbeitstag mit acht Stunden Lernprogramm. So musste es sein. Nur so würde ich perfekt für die Prüfungen vorbereitet sein. Ich hielt den Plan bis zum letzten Tag durch. Eigentlich hätte jetzt laut Plan gar nichts mehr schief gehen können. Wenn ich nicht eine winzige Kleinigkeit übersehen hätte ...

Meine erste Abiturprüfung war die in Biologie, meinem ersten Leistungskurs und meinem absoluten Lieblingsfach. Hierfür hatte ich am allermeisten gelernt.

Opa brachte mich am Prüfungstag zur Schule und ich kam pünktlich dort an. Sogar mehr als pünktlich. Ich war laut Schuluhr eine halbe Stunde zu früh und las noch mal 112 Notizzettel durch, auf denen das allerwichtigste in Kürze stand. Dann begann die Klausur.

Ich las die Aufgaben durch und war plötzlich gar nicht mehr aufgeregt. Ich konnte alles! Es war so leicht und ich wusste so viel zu schreiben. Ich legte nach einer Weile meine Armbanduhr ab, so dass ich die Zeit ständig im Blick hatte. Mir fiel so viel zum Schreiben ein und ich schrieb und schrieb. Ab und zu sah ich auf die Uhr. Ich lag ideal in der Zeit. Als ich noch eine gute Stunde vor mir hatte, machte ich ein paar Lockerungsübungen. Nur noch eine von fünf Aufgaben fehlte. Das war gut zu schaffen. Gerade, als ich den Stift wieder ansetzen wollte, rief der Lehrer: »Abgeben in einer viertel Stunde.«

Niemand sagte etwas, alle schrieben weiter. Mein Herz aber blieb stehen. So fühlte es sich zumindest an.

Laut kreischte ich: »Eine viertel Stunde? Wie das? Wir schreiben doch bis zwölf Uhr! Und jetzt ist es erst Viertel vor elf!«

»Viertel vor zwölf, Coline. Und jetzt sei still und schreib weiter.«

»Das kann nicht sein. Sehen sie auf meine Uhr!«, schrie ich. Einige aus der Klasse räusperten sich laut.

Der Lehrer kam zu mir.

»Viertel vor zwölf. Da siehst du es auf der Schuluhr, auf meiner Armbanduhr und draußen siehst du die...