Wie Marte Meo wirkt - Ergebnisse eines 10-jährigen Bildungs- und Beratungsforschungsprojektes

Wie Marte Meo wirkt - Ergebnisse eines 10-jährigen Bildungs- und Beratungsforschungsprojektes

von: Dirk Rohr

Carl-Auer Verlag, 2023

ISBN: 9783849790462 , 324 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 31,99 EUR

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Wie Marte Meo wirkt - Ergebnisse eines 10-jährigen Bildungs- und Beratungsforschungsprojektes


 

4 Literaturrecherche und konzeptuell-theoretische Vorarbeiten


Beginnen möchten wir dieses hermeneutische Kapitel mit einer kurzen Kommentierung in Bezug zur ‚Theorie-Praxis-Problematik’ bzw. der ‚Anwendungsbezogenheit versus Wissenschaftlichkeit’, einer ‚Problematik’, die unsere empirische Forschungsarbeit explizit betrifft. Diesbezüglich fordern Dießenbacher und Müller eine kritische Hermeneutik: „weil sie (die Sozialpädagogik, D. R.) zwischen Wissenschaft und Alltag tritt, die beide ihr Recht haben, sich aber nicht gerecht werden“ (1984, 1252). Demnach geht es nicht nur darum, „den pädagogischen (genauso wie den nicht-pädagogischen, D.R.) Alltag allein zu verstehen und zu interpretieren“, sondern um das Entwickeln von Konzepten – inklusive Methoden und Prinzipien – dafür, „den Alltag im Hinblick auf seine real besseren Möglichkeiten auch zu ändern“ (ebd.). Die Arbeit mit Marte Meo als auch andere systemische und humanistische (Beratungs-)Ansätze (vgl. 5.2.1) – also die Thematik dieser Forschung, aber auch diese Forschung an sich – gehen den gleichen Weg (der kritischen Hermeneutik) und haben das gleiche Ziel: Änderungsmöglichkeiten für den Einzelnen (durch die Reflexion anhand von Marte Meo) theoretisch und konzeptionell aufzuzeigen: sich selbst kritisch zu betrachten (vgl. Rohr, 2016, S. 12 ff.). Im Folgenden wird nun die erste Phase des Gesamtprojektes beschrieben.

4.1 SYSTEMATISCHE LITERATURRECHERCHE


Um möglichst nachvollziehbar und transparent einen kritischen Überblick über bisherige Literaturveröffentlichungen zum Forschungsfeld „Marte Meo in Beratung und Therapie“ zu bekommen, wurde eine systematische Literaturrecherche gemäß Cooper (2017) durchgeführt. Hierbei wurden als Hauptziele für die Recherche das Identifizieren und Beschreiben sowie das Integrieren und Synthetisieren zentraler Fragestellungen im Forschungsfeld festgelegt. Es wurden zentralrelevante Literaturdatenbanken aus den Bereichen Psychologie und Pädagogik ausgewählt (PsycInfo, PSYNDEX, TOC Premier, Scopus, ERIC, FIS Bildung Literaturdatenbank). Folgender Suchterm wurde verwendet: („marte meo”) AND (intervent: OR therap: OR berat: OR consult: OR counsel: OR coach: OR erzieh: OR educat: OR bild: OR learn: OR foerder: OR promot: OR entw: OR develop: OR train:). Mit diesem wurde die Literatursuche (in Titeln, Abstracts und Schlagwörtern) am 13.04.2019 durchgeführt und ergab 130 Treffer. Mithilfe des Zitiertools Citavi wurden die gefundenen Quellen per Datenexport in einer Excel-Tabelle systematisch analysiert. Zu Beginn fand eine in Tabelle 2 dargestellte basale Selektion der Daten statt: Doppelungen (N = 42), Veröffentlichungen in Norwegisch und Französisch (N = 5) sowie thematisch unpassende Veröffentlichungen (N = 5) wurden eliminiert, sodass 78 Treffer übrigblieben. Nach diesen ersten Selektionsschritten wurden die Veröffentlichungen auf ihren empirischen Gehalt hin geprüft. Empirisch fundierte Studien wurden bezüglich ihres Anwendungskontextes beziehungsweise ihres Untersuchungsgegenstandes sowie ihrer Studienqualität analysiert.

Tab. 2: Absolute Quellenzahlen je Datenbank nach initialer Suche und nach Selektionsschritten

4.1.1 Empirischer Gehalt der gefundenen Literatur


Es zeigte sich, dass der Großteil der Veröffentlichungen (N = 58) keine empirischen Ergebnisse enthielt. Mithilfe von Codierungen wurden folgende fünf Kategorien dieser Artikel aufgestellt: Methodenbeschreibungen (N = 20), Fallberichte (N = 16), Plädoyers zur Methodennutzung (N = 9), Lehrbücher (N = 11), Reviews (N = 2). Die restlichen 20 Veröffentlichungen basierten auf empirischen Daten. Davon ließen sich 14 als Studien mit qualitativem Forschungsdesign (Gill, 2019; Lykkeslet et al., 2016; Neander & Skott, 2008; Vik & Rohde, 2014) und fünf als Studien mit quantitativem Forschungsdesign einordnen (Axberg et al., 2006; Balldin et al., 2018; De-Garmo et al., 2019; Kristensen et al., 2017a; Kristensen et al., 2017b; Vik & Hafting, 2009). Eine Studie kombinierte sowohl qualitative als auch quantitative Daten (vgl. Kristensen, 2005). Eine ausführliche Übersicht dieser empirischen Studien kann beim Autor angefragt werden.

Untersuchungsgegenstand der gefundenen Literatur

Worum dreht sich die wissenschaftliche Diskussion in der Marte-Meo-Forschung? Unter den veröffentlichten, empirischen Studien ließen sich im Hinblick auf den untersuchten Anwendungskontext drei Forschungsstränge identifizieren: Der erste Forschungsstrang beinhaltet vier Studien, die den Einsatz von Marte Meo in der Versorgung demenzerkrankter Patientinnen untersuchen (vgl. Alnes, Kirkevold & Skovdahl, 2011a, 2011b, 2013; Lykkeslet et al., 2016). Ein zweiter Forschungsstrang fokussiert mit weiteren vier empirischen Studien den Marte-Meo-Beratungsprozess an sich, verwendet als Zielgruppe Marte-Meo-Berater:innen und beleuchtet Supervisionserfahrungen und förderliche Therapeut:innenmerkmale (vgl. Kiamanesh et al., 2018; Kristensen et al., 2017b; Lykkeslet et al., 2016; Neander & Skott, 2008; Wächter & Laubenstein, 2013). Der letzte und größte der drei Forschungsstränge untersucht den Einsatz von Marte Meo bei problematischen Interaktionen von Kindern oder Jugendlichen mit ihren Bezugspersonen. Der Großteil dieser 12 Studien betrachtet ein leibliches Elternteil als Interaktionspartner:innen mit dem Kind/Jugendlichen. Nichtsdestotrotz zeigte die Analyse ebenfalls zwei Studien, die die Betreuerin-Kind-Interaktion in einer Heimeinrichtung (vgl. Bünder, 2011a) und in Adoptivfamilien (vgl. Osterman et al., 2010) untersuchten. Eine Studie wählte dabei eine kombinierte Herangehensweise und setzte Marte Meo in Interaktionen mit sowohl Eltern als auch Lehrkräften in Vor- und Grundschulen ein (vgl. Balldin et al., 2018). Zielgruppen waren darüber hinaus mit Blick auf das Kind in der Interaktion, Kinder (3 - 12 Jahre) mit Verhaltensauffälligkeiten (vgl. Axberg et al., 2006; Balldin et al., 2018; Kristensen, 2005) und Säuglinge (vgl. Gill et al., 2019; Kristensen et al., 2017a). Bezüglich der Bezugsperson wählten einige Studien als Zielgruppe geschiedene Väter (vgl. DeGarmo et al., 2019) und belastete Mütter indigener australischer Herkunft (vgl. Lee et al., 2010) und Mütter mit postnatalen Depressionen (vgl. Vik & Hafting, 2009; Vik & Braten, 2009; Vik & Rohde, 2014).

4.1.2 Bewertung der gefundenen Literatur


„Was derzeit noch fehlt, sind empirische Studien, die die propagierte Wirksamkeit der Methode (…) wissenschaftlich belegen können“ (Bünder, 2011a, S. 334). Diese Aussage lässt sich acht Jahre später nur noch teilweise bestätigen: Wie die durchgeführte systematische Literaturrecherche zeigt, wurde Marte Meo inzwischen international gesehen empirisch untersucht. Die empirische Forschung zur Methode ist jedoch noch in den ersten Zügen und erlaubt nur einige wenige „ermutigende Hinweise“ zum Wirksamkeitsnachweis (Osterman et al., 2010, S. 50).

Einige wenige Veröffentlichungen (lediglich sechs der 20 als empirisch eingestuften) wiesen ein quantitatives Studiendesign auf. Um die Evidenzstärke dieser Ergebnisse zu evaluieren, wurden die gefundenen quantitativen empirischen Veröffentlichungen in einem nächsten Schritt auf ihre Studienqualität hin überprüft: vier der sechs Studien verglichen eine Experimentalgruppe, in der Marte Meo angewandt wurde, mit einer Kontrollgruppe. Der Rest der Studien verzichtete auf eine Kontrollgruppe (vgl. DeGarmo et al., 2019; Kristensen, 2005), sodass der Einfluss elementarer Störgrößen nicht ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus wurden in nur zwei der Veröffentlichungen die Untersuchungsbedingungen durch eine Randomisierung der Proband:innenauswahl (vgl. DeGarmo et al., 2019) bzw. Gruppenzugehörigkeit (vgl. Balldin et al., 2018) kontrolliert. Die Repräsentativität der Studien ist als gering bis mittel einzuschätzen: Proband:innenzahlen reichen von 11 (vgl. DeGarmo et al., 2019) bis 278 (vgl. Kristensen et al., 2017a). Dabei fand die Proband:innenrekrutierung freiwillig und relativ flächendeckend statt, zum Beispiel in Schulen über eine Lehrer:innenauswahl (vgl. Axberg et al., 2006; Balldin et al., 2018) oder über ein nationales Gesundheitsförderprogramm für Neugeborene (vgl. Kristensen et al., 2017a; Kristensen et al., 2017b). Zur Kontrolle der Kausalrichtung wurden vorwiegend Prä- und Postmessungen in einem Zeitraum von einem (z. B. Kristensen et al., 2017a) bis drei Jahren (z. B. Balldin et al., 2018) erhoben, lediglich eine Studie verzichtete darauf (vgl. Kristensen et al., 2017b). Fast alle Studien berichteten Effektstärken und machten damit untersuchte Effekte empirisch transparent. Zwei Studien berichteten lediglich Signifikanzlevel sowie Konfidenzintervalle (vgl. Kristensen et al., 2017b; Kristensen et al., 2017a). Die Operationalisierung der Studien lässt sich als relativ...